Wikipedia-Verbot für AFP-Journalisten: Warum das Weblexikon nie die einzige Quelle für Medienberichte sein sollte


Die Agence France-Presse (AFP) ist eine ehrwürdige Nachrichtenagentur. Gegründet 1835 von Charles-Louis Havas unter dem Namen Agence des feuilles politiques, correspondence générale, ist sie heute nach Associated Press (AP) und Reuters die drittgrößte Agentur der Welt. AFP hat Büros in 110 Ländern, verbreitet Nachrichten in sieben Sprachen. Dabei beschreibt die AFP ihren eigenen Rechtsstatus als ähnlich jener der deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die Kontrolle des Unternehmens liege bei den Nutzern (was freilich beim öffentlichen Rundfunk nicht so ist), „mit starker Dominanz der französischen Presse“. Das gesetzlich verankerte AFP-Statut garantiere die Unabhängigkeit von Staat und Privateigentümern. Selbstverständlich unterliegt die AFP-Berichterstattung hohen journalistischen Qualitätsstandards.

Offenkundig in Sorge um diese Standards verkündete die Chefredaktion von AFP in der vergangenen Woche eine neue interne Richtlinie, die der Figaro zitierte mit den Worten: „L’agence de presse française interdit l’utilisation de Wikipédia à ses collaborateurs.“ AFP untersagt seinen Mitarbeitern weltweit die Nutzung von Wikipedia, genauer: die Nutzung „als Quelle“ und die Verwendung von Zitaten aus Wikipedia.

Zuvor hatte eine AFP-Depesche über David Douillet für Kopfschütteln gesorgt. Douillet ist eine französische Sportlegende, Judo-Olympiasieger der Jahre 1996 und 2000, und seit dem 29. Juni dieses Jahres Staatssekretär für die im Ausland lebenden Franzosen im Kabinett von Premierminister François Fillon. Die AFP-Meldung hatte sich allzu nah am Wikipedia-Eintrag über Douillet orientiert, berichtet der Figaro. Das verwundert bei der Berichterstattung über ein kürzlich berufenes Regierungsmitglied, noch dazu mit dieser schillernden Biografie. Das Wikipedia-Verbot ist Teil einer Art Social Media Policy der AFP. Twitter und Facebook werden darin als „Arbeitswerkzeuge“ bezeichnet, die allerdings nur für Gewinnung kurzfristiger, eilige Infos genutzt werden dürften.

Warum setzt die Chefredaktion einer der weltgrößten Nachrichtenagenturen so restriktive Regeln? Ein Blick auf die Prinzipien in Deutschland.

Die pressemäßige Sorgfalt ist die Kardinalpflicht der Presse. Mit den Freiheiten der Presse und ihrer öffentlichen Aufgabe, zu informieren und zu kritisieren, geschützt in Art. 5 des Grundgesetzes und Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie konkretisiert in den Landespressegesetzen, gehen Pflichten und Verantwortung einher, vor allem gegenüber den Rechten derer, über die berichtet wird. Die Landespressegesetze schreiben daher vor, dass die Presse Nachrichten vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Herkunft und Wahrheit zu prüfen hat. Juristisch geht es um einen gleitenden, flexiblen Sorgfaltsmaßstab, abhängig vom Grad der Berührung der Rechte anderer, sowie von Aktualität, Nachrichtenwert, Bedeutung der Nachricht und der jeweiligen Quelle. Für elektronische Presse, Rundfunk und Telemedien gelten im wesentlichen die gleichen Maßstäbe.

Der Pressekodex des Deutschen Presserates konkretisiert diese Anforderungen. Darin heißt es etwa in Ziffer 2: „Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt“, und: „Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.“ Recherche, Recherche, Recherche wird also von Journalisten verlangt. Das ist ihre gesetzliche und ihre standesmäßige Pflicht.

Nun führt der Weg zu einer Nachricht oder zur Erforschung der Hintergründe einer ersten Information meist zuerst zu einer Google-Suche, ob am Redaktionsschreibtisch oder am Handy. Google zeigt einen oder mehrere Wikipedia-Treffer. Wikipedia bietet den ersten Überblick über ein Thema, selbstverständlich auch und gerade für Journalisten. Eine Studie des Instituts für Journalistik der Technischen Universität Dortmund befragte dazu vor kurzem renommierte Journalisten und Wissenschaftler. Albrecht Ude vom Netzwerk Recherche wird in der auf slideshare veröffentlichten Präsentation zitiert:

„Wikipedia ist nach meiner Überzeugung das heimliche Leitmedium im Internet. Jeder, der im Netz war, war auch schon bei Wikipedia. (…) Die Wikipedia, eingedampft auf einen Satz, ließe sich so beschreiben: Viele Leute erzählen freiwillig, was sie wissen. Das ist doch eine traumhafte Situation – gerade für uns Journalisten. Wir kennen das normalerweise nur so, dass die Leute nicht freiwillig erzählen, was sie wissen.“

Michael Haller, Journalistikprofessor an der Universität Leipzig, ordnete in einem Gespräch mit Deutschlandradio Kultur im Januar 2011 Wikipedia ebenfalls als Erst-Rechercheinstrument ein:

„Sie müssen sich den recherchierenden Journalisten vorstellen, dass er, bevor er an kritische, nicht öffentliche Informationen kommt, sich zu erst mal eine Übersicht verschaffen sollte. Und das gemeinhin verfügbare Alltagswissen, aber auch schon das definierte Begriffswissen, reicht ja über das hinaus, was man so im Kopf herumträgt.“

Wikipedia ist also der Gatekeeper, das Eingangstor in eine Themenwelt, Ausgangspunkt für eine tiefergehende Recherche. Wenn es gut läuft, führt diese zur Verifizierung und weiteren Fundierung der gewonnenen Erkenntnisse. Wenn es besonders gut läuft, findet sich dann das Ergebnis einer guten Recherche in einer veröffentlichten Geschichte wieder. Diese wird wiederum in Wikipedia zitiert, Wikipedia bleibt Sekundärquelle und wird ebenfalls fundierter.

Wenn es schlecht läuft, wird Unverifiziertes abgeschrieben. Wenn es ganz schlecht läuft, ist das Unverifizierte auch falsch. Das Beispiel des erfundenen Vornamens „Wilhelm“ in der Vornamenkette von Karl-Theodor zu Guttenberg, verwendet von zahlreichen großen Medien, wird dafür immer wieder als Beispiel herangezogen. Und wenn es noch schlechter läuft, landet die falsche Information aus Wikipedia in einem Medium und anschließend wieder in Wikipedia, die fortan das Medium als Quelle für die vermeintliche Richtigkeit zitieren kann. In einer an prominenter Stelle in den Wikipedia-Beleg-Grundsätzen platzierten Grafik, machen sich die Wikipedianer über dieses Wechselspiel selbst lustig.

Letztlich sind diese Entwicklungen jedoch weniger ein Fehler von Wikipedia und ihren Machern, sondern eher der Schludrigkeit von Journalisten geschuldet, die Wikipedia nicht als eine Eingangs- und Überblicksquelle unter mehreren, sondern als einzige nutzen. Dies merkt auch der Leipziger Journalistikprofessor Haller an, wenn er ausdrücklich dazu rät, Wikipedia als eine Ressource unter vielen zu nutzen. Und das langjährige Presseratsmitglied Manfred Protze mahnt, nachzulesen in der oben dargestellten Präsentation der TU Dortmund: „Die Sorgfaltsregeln, die bisher schon im traditionellen konservativen System für die Nutzung von Quellen galten, gelten auch bei Quellen wie Wikipedia.“ Journalisten müssen also die jeweils in Wikipedia angegebenen Quellen und deren Herkunft mit prüfen, sich genauer die Versionsgeschichte ansehen, und in jedem Fall mindestens eine weitere Quelle heranziehen.

Hinzu tritt der Faktor Zeit. Haller sagt, je größer die Aktualität eines Wikipedia-Eintrags sei, desto höher sei die Gefahr nicht korrekter Informationen:

„Der Profi-Journalist weiß, dass Wikipedia wie jede Enzyklopädie nur zuverlässig ist, wenn eben nicht der Aktualität hinterhergehechelt wird, sondern wenn man Bearbeitungen in Wikipedia aufruft, die sich auf abgeschlossene Vorgänge, auf abgeschlossene Biografien, auf abgeschlossene Themen und Begriffe beziehen.“

Die fundierte Dokumentation vergangener oder zumindest etablierter Sachverhalte ist danach die Kernaufgabe der Enzyklopädie. Zwar berichtet Wikipedia immer wieder hochaktuell über entstehende Ereignisse, aber erst in der Rückschau wird Wikipedia zu einer verlässlichen Quelle. Eindrucksvoll bewiesen hat dies jener der Geschichte vorauseilende englischsprachige Wikipedia-Eintrag zur ägyptischen Revolution. Aber auch die Lemmata zur Nuklearkatastrophe von Fukushima sind ein hervorragendes Beispiel dafür. Schwarmintelligenz lebt zwar von der Gleichzeitigkeit der Mitarbeit sehr vieler Menschen an sehr vielen Orten; dennoch brauchen diese Zeit zur Auswertung von (meist journalistischen) Primärquellen. Denn Wikipedia selbst, so ein zentrales Prinzip der Onlineenzyklopädie, darf nicht selbst zur Primärquelle werden, also keine Theoriefindung betreiben, sondern soll bekanntes Wissen zusammen tragen.

Punkt 8 der Prinzipien über das, was Wikipedia nicht sein soll, statuiert: „Wikipedia ist kein Nachrichtenportal (…) und dient nicht der aktuellen Berichterstattung.“ Wikipedia darf also selbst keinen Journalismus machen. Muss sich das Weblexikon also selbst Langsamkeit verordnen, um seine Qualität zu sichern? Um die Relevanz eines jeden Eintrags immer wieder zu prüfen, die notwendigen Kompromisse in notwendigen inhaltlichen Konflikten zu finden, jeden Fakt sauber zu belegen, und das zentrale (Objektivitäts-) Prinzip des neutralen Standpunkts stets zu beherzigen?

Eine Nachrichtenagentur unterliegt zwar ebenfalls höchsten Sorgfalts- und Objektivitätsanforderungen, folgt aber ansonsten einer völlig anderen Logik: Zeit und Exklusivität. Sie muss besonders schnell sein. Ihre Kunden – Zeitungen, Fernsehsender, Websites – verlassen sich darauf, Informationen in kürzester Zeit zu erhalten. Die Agenturen sind Gatekeeper, bestimmen wesentlich darüber, welches Ereignis wichtig ist. Sie tickern zunächst Blitz- und Eilmeldungen, später Zusammenfassungen, Reportagen, dazu das zugehörige Bildmaterial. Wenn auffällt, dass etwas nicht stimmt, folgt in der Regel eine Korrektur. Die Kunden von Nachrichtenagenturen müssen sich auf die Korrektheit der Meldungen verlassen können und sind in diesem Vertrauen durch das sogenannte Agenturprivileg rechtlich geschützt. Eine Zeitungsredaktion etwa muss nach geltender Rechtsprechung den Inhalt einer Agenturmeldung in der Regel nicht noch einmal vor der Veröffentlichung eigenständig nachprüfen, so lange kein Anlass zu begründeten Zweifeln an der Korrektheit besteht. Es haftet gegebenenfalls die Agentur. Das macht den deutlichen Schritt der AFP-Chefredaktion, zumindest nach den deutschen Maßstäben, verständlich.

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