Wikipedia und die ägyptische Revolution: Wie das Onlinelexikon die Geschichte mitschrieb


Der 25. Januar 2011 war der „Tag des Zorns“. Erstmals zogen Zehntausende auf die Straßen Kairos und anderer großer ägyptischer Städte. Sie protestierten gegen das Regime Husni Mubaraks – und stürzten es schließlich. Nach Tunesien hatte der arabische Frühling Ägypten erreicht. Doch wie das neue, das zukünftige Ägypten aussehen wird, wie es regiert werden wird, wie die junge Demokratie gelingt, ist bis heute alles andere als klar.

Wikipedia dokumentierte den Umsturz von Anfang an im Detail: Erläuterungen, Einordnungen, Chronologien sollten ein umfassendes Bild vermitteln. Wiki-Watch zeigte den Artikel „Revolution in Ägypten 2011“ lange Zeit als denjenigen Wikipedia-Eintrag mit den häufigsten Änderungen an, bis am 11. März 2011 die Atomkatastrophe von Fukushima Japan und die Welt erschütterte. Der Fukushima-Artikel ist seither 2686 mal von 439 Wikipedianern geändert worden, jener zur ägyptischen Revolution 663 mal von 195 Autoren. Dies sind nur die Zahlen der deutschsprachigen Wikipedia. Die englischsprachige – globale – Wikipedia hat ungleich beeindruckendere Werte: Der Fukushima-Eintrag wurde von 652 Autoren 3785 mal bearbeitet, der Ägypten-Artikel von 728 Wikipedianern insgesamt 4828 mal.

Diese Zahlen zeigen die Dynamik der Entstehungsgeschichte dieser Chroniken des jüngsten Weltgeschehens. Wikipedia arbeitet in unglaublichem Tempo. So schnell, dass die Enzyklopädie dem realen Geschehen manchmal einen Schritt voraus ist. Das hat der israelische Linguist Dror Kamir, Wissenschaftler im internationalen Netzwerk „Critical Point of View“ (angelehnt an den „Neutralen Standpunkt“ als zentrales Wikipedia-Prinzip), das sich kritisch mit dem weltgrößten Lexikon auseinandersetzt, in einem sehr lesenswerten Blog-Beitrag nachgewiesen: „Parallel ‚online‘ and ‚real world‘ Egyptian revolutions, or Wikipedia’s Tahrir Square“, ist sein Text überschrieben. Es geht darum, wie sich digitale und reale Welt überlappen, wie Wikipedia ihren eigenen Tahrir-Platz geschaffen hat. Die wichtigste Erkenntnis, leicht zu recherchieren anhand der Versionsgeschichte des englischsprachigen Artikels „2011 Egyptian Revolution“: Die Proteste hatten kaum begonnen, eine Einordnung war noch kaum möglich, da gab es schon den Wikipedia-Eintrag, der diese dokumentierte.

Der Wissenschaftler Kamir verweist darauf, dass die Proteste seit etwa einer Woche vor dem 25. Januar geplant worden waren. Dies geschah hauptsächlich über Facebook-Gruppen, noch am 24. Januar spekulierte das amerikanische Time Magazine online darüber, ob Ägypten eine Facebook-Revolution bevorstehe. Die Proteste begannen schließlich tags darauf gegen 12 Uhr am Mittag in Kairo. Schon gut drei Stunden später, um 15.36 Uhr Kairoer Zeit, erstellte der Wikipedia-Autor „The Egyptian Liberal“ den Artikel „2011 Egyptian Revolution“. Dies war allenfalls ein bis zwei Stunden, nachdem das Ausmaß der ersten großen Protestwelle sichtbar wurde. Gleichwohl sprach der Wikipedia-Eintrag von der „Revolution“ (Wiki-Watch hat die Kontroverse um den Begriff in einem Beitrag vom 1. Februar analysiert), von einer andauernden Serie von Demonstrationen mit Beginn am 25. Januar und politischen Zielen, vorrangig jenem Hauptanliegen, Mubarak aus dem Amt zu treiben. Andere Sprachversionen folgten zurückhaltender, und deutlich später. Die arabische Wikipedia berichtete sieben Stunden nach Beginn der Proteste, begonnen durch den gleichen Autor. Die ägyptisch-arabische Sprachversion hatte erst drei Tage später einen Eintrag zu den Unruhen.

Kamir folgert in seiner Analyse aus dem Fakt, dass „The Egyptian Liberal“ bereits am 24. Januar Karikaturen, die zum Sturz Mubaraks aufriefen, bei Wikimedia Commons hochgeladen hat, und daraus, dass schon die erste Fassung des Artikels eine recht komplexe Syntax aufwies und binnen enorm kurzer Zeit hochgeladen wurde, dass der Text vorbereitet gewesen sein muss. Dies lässt sich auch aus der Bewertung der Ereignisse schließen, die, wie oben beschrieben, schon diese erste Version beinhaltete.

Die englischsprachige Wikipedia hat sich im Angesicht dieses Welteregnisses folglich nicht nur als beobachtende, später das Geschehen dokumentierende Enyzklopädie erwiesen. Vielmehr haben ihre Autoren, allen voran „The Egyptian Liberal“, der den Artikel initiierte und bis heute durch Beiträge prägt, die Geschichte in der Wikipedia mitgeschrieben, ohne dass das reale Geschehen dieser schon entsprach.

Sie haben politisch agiert, zwar im potenziellen Einklang mit einer vorherrschenden Meinung von Wikipedia-Nutzern, doch alles andere als unabhängig und neutral, wie es die zentralen Wikipedia-Prinzipien erfordert hätten. Die Motivation sei ideologisch geprägt gewesen, schreibt Dror Kamir. Wikipedia sei das Tool gewesen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Der Wikipedia-Forscher bezieht sich auf Noam Chomsky und die Theorie des „Manufacturing Consent“, ein Begriff, der ursprünglich vom US-Essayisten Walter Lippmann in seinem Buch „Public Opinion“ geprägt wurde. Kamir schreibt:

„Dieser politische Prozess, wie beschrieben von Noam Chomsky, zielt im Grundsatz darauf ab, die öffentliche Debatte dadurch zu begrenzen, dass bestimmte Ansichten und Positionen als unumstößlich und unangreifbar dargestellt werden. In diesem Fall war der Sturz des Mubarak-Regimes in Ägypten eine fait accompli (eine vollendete Tatsache) schon bevor die eigentlichen Proteste begannen. Es war nicht so, als ob Mubarak fallen würde, es war, als sei er schon gestürzt worden. Und wir hatten Wikipedia, um es zu beweisen.“

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