Grenzen des Wachstums: Gehen Wikipedia die Themen aus?


Aktuell hat die deutsche Wikipedia 133.628 Wikipedianer. Diese Zahl sagt wenig darüber aus, wie viele Autoren wirklich in dem Online-Lexikon aktiv sind. Viele Nutzer melden sich an und editieren nur einmal oder nie.

Ein Blick auf  die „aktiven Wikipedianer“ relativiert die Anzahl der Autoren. „Aktiv“ sind solche Wikipedia-Autoren, die mehr als fünf Bearbeitungen pro Monat vornehmen sowie „sehr aktive Autoren“ mit mehr als 100 Bearbeitungen im Monat.

Die Zahl der aktiven Autoren lag im Monat September bei 6.732. Sehr aktive Autoren gab es 1.009. Weltweit sind es etwa 71.694 aktive und 10.248 sehr aktive Nutzer. Die Zahlen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der aktiven Autoren weiter auf hohem Niveau schrumpft. Wiki-Watch berichtete darüber.

Die Ursachen werden unterschiedlich beschrieben: zu männlich, zu kompliziert, zu technologiefixiert. Zudem mangele es an gegenseitiger Unterstützung, so dass Neulinge schnell das Interesse verlieren. Interne Probleme und Machtkämpfe, der teilweise unfaire Umgang machen es den Newbies zusätzlich schwer.

Die Wikimedia Foundation kämpft an vielen Fronten, um den Editoren-Schwund weiter zu bremsen. So soll die freie Online-Enzyklopädie weiblicher werden, für Neueinsteiger soll die Einstiegsschwelle mittels Visual Editor und neuer Signup Page gesenkt werden. Vereinfachte Regeln und eine intuitive Benutzeroberfläche soll das Arbeiten im Wissensnetz erleichtern.

Doch all diese Lösungsansätze können nichts bewirken, wenn sie das eigentliche Problem verfehlen. Hat die Wikipedia ihre Wachstumsgrenze erreicht? Gibt es inzwischen nicht zu fast jedem Thema einen Artikel und kaum noch neue, die geschrieben werden können? Sind Detailverbesserungen und Korrekturen allein nicht mehr reizvoll für neue Editoren und verlieren sie gerade deshalb das Interesse?

Diese These vertritt die US-Zeitschrift „The Atlantic“. Die Wikipedia sei „voll“. Wichtigen Themen wie historische Ereignisse seien weitgehend beschrieben. Die Atlantic-Autorin bezieht sich dabei auf den Historiker und Wikipedia-Autoren Richard Jensen, der in der jüngsten Ausgabe des „The Journal of Military History“ schlicht zu dem Schluss kommt, dass es eine endliche Anzahl von Dingen gibt, über die man schreiben kann (PDF):

„After an encyclopedia reaches 100,000 articles, the pool of good material shrinks. By the time one million articles are written, it must tax ingenuity to think of something new. Wikipedia passed the four million article mark in summer 2012.“

Jensen beschreibt dies am Beispiel des Wiki-Eintrags zum Britisch-Amerikanischen Krieg zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Vereinigten Königreich, auch bekannt als Krieg von 1812.

Der Eintrag, der mit großer Sorgfalt von 3.000 Autoren zusammengestellt worden ist, wurde 2008 noch von 256 Editoren regelmäßig überarbeitet. Heute sind es gerade einmal 28 Wikipedianer, die an dem Artikel werkeln. Dabei hat sich die Zahl der Leser von 434.000 auf heute 623.000 gesteigert. Viel umfangreicher als der bereits sehr gewaltige Artikel selbst (14.000 Wörter) ist die Hintergrunddiskussion: Etwa 600 Teilnehmer haben eine bereits über 200.000 Wörter umfassende Debatte zusammengeschrieben.

Eine paradoxe Situation, die aber zeigt, dass der Artikel bereits so viele Bearbeitung hinter sich hat, dass es nicht mehr viel zu tun gibt, außer sich hinter den Kulissen über das Klein-Klein zu streiten. Ein ähnliches Phänomen lasse sich, so Jensen, auch beim Eintrag zum Zweiten Weltkrieg beobachten.

Für Jensen gibt es nur einen Ausweg aus der Misere. Wikipedia sei zwar ein sehr ausgereiftes Nachschlagewerk mit einer stabilen organisatorischen Struktur und einem guten Ruf. Das Problem sei aber der Mangel an Wissenschaftlichkeit. Um einen professionellen Standard zu erreichen, müsse die Wikimedia Foundation finanziell in qualifizierte Redakteure investieren.

Als Vorbild dient Jensen dabei die in New York ansässige gemeinnützige Organisation JSTOR (Journal STORage), die ein im Gegensatz zur Wikipedia kostenpflichtiges Online-Archiv mit älteren Ausgaben ausgewählter Fachzeitschriften betreibt.

Zweifelhaft bleibt, ob dies nicht der Idee der weltweiten Wikipedia-Gemeinschaft, freies Wissen fernab kommerzieller Interessen möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, gänzlich zu wider läuft.

Die These von der Grenze des Wachstums hat ihre Berechtigung. Es gibt eine sehr große Zahl von historischen Ereignissen, die in der Wikipedia bereits so umfassend beschrieben sind, dass dem kaum noch etwas hinzuzufügen ist.

Doch Wikipedia ist deshalb noch lange nicht am Ende: Geschichte wird täglich neu geschrieben. Tag für Tag entstehen Hunderte neue Artikel zum aktuellen Zeitgeschehen. Allein im September entstanden 366 neue Artikel.

Der Arabische Frühling, das Erdbeben in Japan 2011, der Bürgerkrieg in Syrien, die Wulff-Affäre, der Europäische Stabilitätsmechanismus, die Sommer-Paralympics 2012, die 13. Documenta Kassel, der Prozess um die Pussy-Riot-Mitglieder oder aktuell die Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten sind Beispiele für eine Enzyklopädie, die aktueller und thematisch umfangreicher nicht sein kann.

Und seien wir ehrlich: Was wäre Wikipedia ohne die vielen bizarren und witzigen Einträge, die das Online-Leben versüßen. Kennen Sie Mike the Headless Chicken oder das fliegende Spaghettimonster? Was wissen Sie über die Pommesgabel oder Absurdistan?

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