Der letzte Ort, der nicht politisch polarisiert ist: Wikipedia


Die USA waren und sind politisch ein gespaltenes Land. Die Wahlergebnisse der 57. Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten zeigen, dass sich die Spaltung Amerikas sogar noch verschärft hat. Einzelne Wählergruppen tendieren noch stärker zu einem politischen Lager. Und das nicht nur in Bezug auf Parteizugehörigkeit und Ideologie, sondern auch was Rasse und Ethnie, Geschlecht und Familienstand, Region und Religion, Ausbildung und Alter anbelangt. Die Le Monde diplomatique beobachtet gar eine Rückkehr der Rassentrennung in der Politik, vor allem in den Südstaaten. Die renommierte US-Tageszeitung Daily News konstatiert:

„Nach dem teuersten und wohl hässlichsten Wahlkampf der Geschichte, erscheint das Prinzip des „Divided government“ lebendig und wohlauf.“

Diese extreme Spaltung des Landes spiegelt sich auch in der Welt der politischen Blogs und bei Twitter wider: Es finden fast ausschließlich Menschen zueinander, die eine politische Meinung oder Ideologie teilen: die Gleichgesinnten.

Nach einer aktuellen Studie der University of Southern California und der Barcelona Media Foundation ist Wikipedia der letzte Ort in den Vereinigten Staaten, der nicht politisch polarisiert ist. Das habe entscheidend mit dem Selbstverständnis von Wikipedia zu tun, Themen sachlich darzustellen und den persönlichen Standpunkt des Wikipedia-Autors aus Wikipedia-Artikeln herauszuhalten.

Wikipedia-Leser schätzen das Netzwerk genau aus diesen Grund: Sie suchen nach neutralen Informationen in Zeiten hitziger politischer Schlachten. Die Studie zeigt, dass es trotz der zunehmenden Spaltung der USA immer noch Bereiche gibt, in denen der politische Dialog möglich ist und tatsächlich geschieht – nämlich auf den Diskussionsseiten von Wikipedia, wo die Nutzer beider politischer Überzeugungen debattieren und zusammenarbeiten, um enzyklopädische Berichterstattung über politische Themen zu erstellen.

Die Forscher schreiben in der Zusammenfassung:

„Hence, the results of our analysis show that despite the increasing political division of the U.S., there are still areas in which political dialogue is possible and happens.“

Im Gegensatz zu früheren Analysen zu anderen sozialen Medien hat das Forscher-Team keinen starken Trend finden können, dass die einen bevorzugt mit Mitgliedern der gleichen politischen Partei innerhalb der Wikipedia-Community interagieren. Es scheint, dass die gemeinsame Identität als „Wikipedianer“ stark genug ist, um über persönliche Ansichten zu triumphieren:

„Our results indicate that users who proclaim their political affiliation within the community tend to proclaim their identity as a ‘Wikipedian’ even more loudly. It seems that the shared identity of ‘being Wikipedian’ may be strong enough to triumph over other potentially divisive facets of personal identity, such as political affiliation.“

Als Zeugnis dafür, was in einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen vielen Editoren mit gegensätzlichen politischen Überzeugungen erreicht werden kann, haben Wikipedianer die Artikel über beide Kandidaten in der Präsidentschaftswahl zu einem „featured Artikel“-Status gebracht, was die höchste Wertigkeit auf Wikipedia in Sachen Genauigkeit, Neutralität, Vollständigkeit und Stil ist. Artikel mit dieser Wertung dienen Wikipedia-Autoren als Beispiele für das Schreiben von anderen Artikeln.

Und wie ist die Stimmungslage in der deutschen Wikipedia? Eine nicht repräsentative Umfrage von Wiki-Watch unter Wiki-Admins im Oktober 2010 ergab ein zwiespältiges Bild: Zahlreiche Admins sehen die Motivation ihrer ehrenamtlichen Arbeit in der Suche nach dem Community-Konsens, die Entscheidung in kontroversen Diskussionen um das Löschen einzelner Artikel, die Lösung komplizierter „Edit Wars“. Sie wollen „Unsinn aus Wikipedia heraushalten“.

Andererseits kritisieren viele Admins den Umgangston in den Diskussionen innerhalb der deutschen Wikipedia. Die Diskussionskultur sei „unterirdisch“. Wer andere Nutzer beleidige, gehöre unabhängig von seiner Stellung im Projekt zeitweise gesperrt, schreibt ein Admin. „Wieder mehr Freiheit, weniger Adminwillkür“, fordert ein anderer. Ein weiterer beobachtet eine „feindliche Atmosphäre“. Andere empfehlen daher „mehr Gelassenheit, auch gegenüber Kritik von außen“ und „mehr Witz, Geist und Souveränität“.

Über die etablierten Wikipedianer sind die Ansichten kontrovers: „Pauschale Abwehrreflexe und schnoddriges Verhalten“ sieht ein Admin, eine „Wagenburgmentalität im eigenen Thema“ oder „Frustration, Elitenbildung und Abschottung“ attestieren andere ihren Kollegen.

Bei weiteren Admins überwiegen positive Erfahrungen: Freundschaften, die aus der gemeinsamen Tätigkeit und bei Wikipedia-Stammtischen entstanden sind. Respekt vor den Leistungen der anderen. Dennoch: 72 Prozent der befragten Wikipedianer wollen Admins bleiben und weiter werkeln am Wissen der Welt. Aber immerhin 28 Prozent sind frustriert!

Wir haben uns aktuell die Diskussionsseiten zu den Spitzenkandidaten von CDU und SPD angesehen. Die Einträge zu den Wikipedia-Einträgen von Kanzlerin Angela Merkel und dem stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden Peer Steinbrück sind überwiegend sachlich und ausgewogen.

Heftig umstritten war lediglich Angela Merkels Rolle in der FDJ. Im Ergebnis lässt sich festhalten: Was nicht eindeutig belegt werden konnte, hatte keine Chance, in den Wikipedia-Eintrag reinzukommen. Nach langen Diskussionen in den Jahren 2005 bis 2009 hat sich zu Merkels FDJ-Vergangenheit folgender Satz durchsetzen können:

„Nach eigenen Angaben war Merkel in der FDJ als Kulturreferentin tätig, während Quellen, die der Merkel-Biograf Gerd Langguth befragt hat, davon sprechen, sie sei für ‚Agitation und Propaganda‘ zuständig gewesen.“

Peer Steinbrücks Wiki-Eintrag wurde 2005 anlässlich der Landtagswahlen in NRW zum Politikum: „Zensur aus dem Bundestag“ und „Angriff auf Wikipedia“ schallte es durch die Blogosphäre. Alles nahm seinen Anfang, als der Rechtsanwalt Alexander A.T. Klimke, in der Wikipedia als Berlin-Jurist unterwegs, im Wikipedia-Artikel über Jürgen Rüttgers vier Änderungen in einer Viertelstunde entdeckte. Heise online schrieb dazu:

„An sich ist das nicht ungewöhnlich: Schließlich wird am Sonntag in Nordrhein-Westfalen gewählt und Jürgen Rüttgers ist der Spitzenkandidat der CDU. Für viele Wikipedianer Anlass genug, die bis dahin eher knapp gehaltenen Artikel auszubauen und vermeintliche Parteilichkeiten zu tilgen. Doch die Änderungen vom frühen Dienstag Nachmittag hatten ein prominentes Alleinstellungsmerkmal: Sie hatten ihren Ursprung im IP-Netz des Bundestages. Noch mehr: Auch der Artikel über Rüttgers Kontrahenten und amtierenden Ministerpräsidenten Peer Steinbrück wurde geändert: Eine Liste der Ehrenämter Steinbrücks wurde mit der neuen Überschrift ‚Nebentätigkeiten‘ versehen.“

Das Nachrichtenportal weiter:

„Zwar machten die Änderungen aus dem Bundestags-Netz die Artikel nicht besser, eine großartige Verschlechterung ließ sich aber auch nicht feststellen. Hinzu kam, dass die Beiträge quasi sofort von anderen Wikipedianern rückgängig gemacht wurden.“

Die interne Diskussion über angebliche Manipulationsversuche von Steinbrücks Wikipedia-Artikel endete schnell und ist heute keine Thema mehr.

Fazit: Verglichen etwa mit dem Politik-Blog „Politically Incorrect„, auf dem Leser zum Teil menschenverachtende und politisch hoch polarisierte Kommentare abgeben, sind die hier betrachteten Wikipedia-Diskussionen von einer Kultur des Konsenses geprägt, die stets das Neutralitätsgebot von Wikipedia im Auge behalten. Von einem besonders rauen Umgangston kann hier jedenfalls nicht die Rede sein. Das ist natürlich keineswegs repräsentativ. Es zeigt nur eines: Es wird Zeit für eine neue Umfrage unter allen Wiki-Admins!

Bleibt uns nur noch die Aufforderung an euch, uns eure Meinung zu schreiben – hier oder auf Facebook. Folgt uns auch auf Twitter!

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1 Antwort zu Der letzte Ort, der nicht politisch polarisiert ist: Wikipedia

  1. C. L. sagt:

    Ihre deutschen Beispiele sind wahrlich nicht repräsentativ. Wenn man sich etwa den Kurier anschaut, wird in der deutschen Wikipedia weiter gegen rechts gehetzt und die Pressefreiheit eher bekämpft als gestützt.

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