Mehr Demokratie wagen: warum Wikipedia Reformen braucht


Wikipedia ist eine Wissensmacht, die sich kaum noch wegdenken lässt. Doch Lobbyismus, Machtmissbrauch durch Administratoren, männliche Dominanz und quälende Relevanzdebatten (jüngst: Löschdiskussion zum RaumZeitLabor) haben bei der erfolgsverwöhnten Online-Enzyklopädie deutliche Schrammen hinterlassen. Während die Popularität bei den Lesern immer weiter wächst, hat die Wikipedia in den vergangenen Jahren kontinuierlich Autoren verloren.

Im Rekordjahr 2007 schrieben im Durchschnitt 85.110 Personen für das Online-Lexikon, 2012 sind es nur noch noch rund 69.108, was im Vergleich etwa 16.000 Personen weniger sind. Eine aktuelle Studie der Universität Minnesota gibt der Einführung neuer Regeln zur Qualitätskontrolle und bestimmten Algorithmen zur Prüfung neuer Lexikon-Einträge die Schuld dafür, dass neue Autoren nicht mehr so lange dabei bleiben:

„This paper presents data that show that several changes the Wikipedia community made to manage quality and consistency in the face of a massive growth in participation have ironically crippled the very growth they were designed to manage. Specifically, the restrictiveness of the encyclopedia’s primary quality control mechanism and the algorithmic tools used to reject contributions are implicated as key causes of decreased newcomer retention. Further, the community’s formal mechanisms for norm articulation are shown to have calcified against changes – especially changes proposed by newer editors.“

Wikipedia und Demokratie – Herrschaft der Verdienten?

Doch nicht nur die Einführung neuer Regeln ist Schuld am Autorenschwund: Ein Blick auf die Leserkommentare zu Artikeln, die sich mit dem Autorenschund befassen, zeigt ein weiteres gravierendes Problem auf: die Macht und Selbstherrlichkeit einiger Administratoren:

„Es sind bei weitem nicht alle, die zu den Problem-Admins zu zählen sind, doch diese wenigen, die zu diesem Kreis gehören haben das Projekt mittlerweile so weit unterwandert, dass die anständigen Admins lieber schweigen oder sich gar gänzlich von WP zurückziehen. Der Selbstreinigungsprozess funktioniert nicht mehr und daher laufen WP auch die Autoren davon.“,

schreibt ein Kommentator zu einem Artikel der Online-Ausgabe der taz. Ein anderer kritisiert:

„‚Geschlossene Gesellschaft‘ ist der gefundene adäquate Ausdruck dafür. Es wurde nie eine ausreichende Balance zwischen den Interessen der Autoren und der Administration gefunden. Der Verfasser von Artikeln wurde scheinbar zum gemaßregelten Schreiber-Knecht ohne eigene Rechte degradiert. Diesem Ruf der Geringschätzung der Autoren ist schwer noch beizukommen.“

Ähnlich sehen es FAZ-Leser. Ein Beispiel: „Wer versucht, einen Artikel zu schreiben, der den selbsternannten Schiedsrichtern bei Wikipedia nicht gefällt, der wird sein blaues Wunder erleben.

Auch Leser der Wochenzeitung Die Zeit sehen die Rolle der Admins äußerst kritisch:

„Die Selbstherrlichkeit vieler Moderatoren schadet Wikipedia mehr als ein paar ‚irrelevante‘ Einträge es je könnten.“ Ein Aussteiger schreibt: „Es war wie ein Verein, der seine Traditionen mit unbedingtem Willen erhalten wollte. Wie dieser Führungsclub zustande kam, wie er arbeitet, das blieb undurchsichtig. (…) Wer mitarbeiten wollte, musste sich erst beweisen, auch indem er eine Sprache lernte und eine Meinung übernahm. Wikipedia war zu einem elitären Projekt verkommen, die Administratoren fühlten sich als Herren im Haus – was ich bei einem so offenen und scheinbar demokratischen Projekt irritierend finde. Wer jedoch dagegen etwas sagte, wurde gesperrt. Dann ist man eben ein Troll.“

Fehlende Legitimation als Demokratiedefizit

Und tatsächlich liegen die Machtpositionen bei Wikipedia fast komplett in den Händen einer überschaubaren Personengruppe. Derzeit entscheiden 267 Admins über das Löschen von Seiten oder das Sperren von Benutzern.

Diese relativ kleine Gruppe ist jedoch kaum legitimiert. Es gibt wenig nachvollziehbare Strukturen, kaum gegeneinander abgrenzbare Verantwortlichkeitssphären. Wie in de:Wikipedia:Machtstruktur nachzulesen ist, herrscht neben demokratischen Elementen eine Art Meritokratie, eine „Herrschaft der Verdienten“.

In das Admin-Amt werden vorzugsweise Benutzer berufen, die besonders engagiert an der Wikipedia-Projektarbeit beteiligt sind und die im Zuge der projektinternen Kommunikation deutlich mehr Unterstützer als Gegner gefunden haben. Weder vor noch nach der Wahl sind Admins verpflichtet, sich in ganz bestimmten Bereichen der Projektarbeit zu engagieren. Jeder Admin bestimmt über sein konkretes Engagement selbst.

Dies führt zu einer weitgehenden Beliebigkeit der Aufgabenerfüllung. Wer einmal im Amt ist, kann schalten und walten wie er will. Da Administratoren unbefristet amtieren, können „Problem-Admins“ nur durch spezielle Abwahlverfahren ihres Amtes enthoben werden. Doch auch hier werden die intransparenten Einflussstrukturen wirksam, die zu einer Art „Oligarchie der besonders Engagierten“ führen:

„Wer die mehrheitliche Unterstützung der Kollegen hat, kann einem Abwahlantrag relativ ungefährdet entgegensehen. Die bisherigen Abstimmungen in der deutschsprachigen Wikipedia (v. a. Meinungsbilder und Adminkandidaturen) hatten stets eine sehr begrenzte Beteiligung zwischen 50 und 350 Stimmen (…). Bei 7000 regelmäßig in der deutschsprachigen Sektion der Wikipedia mitarbeitenden Benutzern bietet sich für diese Relation der Begriff einer Oligarchie der besonders Engagierten an.“

Die „meist gehasste Person in Wikiland“ und mittlerweile gesperrte Benutzerin „Quellnymphe“ kommt zu dem Schluss:

„Es kann nicht gleichzeitig eine Oligarchie oder eine Diktatur und eine Demokratie herrschen. Pluralistische und totalitaristische Konzepte schließen einander aus. An diesem theoretischen Widerspruch krankt Wikipedia. Man kann nicht eine freie Enzyklopädie propagieren, aber einen diktatorischen Kontrollmechanismus installieren, der das Ganze überwölbt.“

Weiter schreibt die Autorin:

„Ich bin für geregelte Beweisverfahren. Ich bin für eine überprüfbare und kontrollierte Ausübung der Administrationsfunktionen durch die Gemeinschaft der Autoren und Leser. Daran, dass die Wahrheit durch Abstimmungen gefunden wird, glaube ich nicht. (…) Manipulationen der Administratoren im Vorfeld darf es nicht geben und eine Lenkung der Diskussion durch Löschung ungenehmer Ansichten irgendwelcher ‚Verdächtigten‘ muss rigoros geahndet werden. Administratoren sind nicht für Inhalte zuständig, sondern nur für den geregelten Verfahrensablauf. Auf Meinungs- und Diskussionsseiten haben sie für die Inhalte keinerlei Zuständigkeit. Dort hat die Gemeinschaft der Abstimmenden das Sagen. Zensur darf nicht stattfinden.  (…) Es werden die Meinungen und Ansichten behindert und gelöscht, die den Administratoren zu unbequem sind. Kritik gilt als querulatorisch, wenn sie die Macht der Administratoren unterminiert. In der Machtfrage geht das Kartell der Oligarchen knallhart zur Sache, da wird gesperrt und gelöscht ohne Rücksicht auf Verluste.“

Demokratie in einer Internet-Gemeinschaft

Wikipedia ist ein offenes System, an dem jeder mitarbeiten kann. Die Teilnahme erfolgt in der Regel anonym. In der Wikipedia handeln nicht natürliche Personen, sondern Benutzeraccounts. Wer hinter einem Account steht, ist unbekannt. Ein Teilnehmer kann sowohl unter verschiedenen IPs als auch unter verschiedenen Benutzernamen auftreten, was kaum nachgewiesen werden kann.

Es gibt Sammelaccounts, Mehrfachaccounts (Stammtische, Arbeitsgruppen, Schulklassen etc.) und all das ist erlaubt. Das gilt auch für Admins. Damit ist jedoch nicht sichergestellt, dass ein Einzelner bei Wahlen oder Abstimmungen bzw. Meinungsbildern nur einmal abstimmt. Das wesentliches Merkmal einer Demokratie, die freie und gleiche Wahl („One man, one vote“), bei der jeder Wähler seine Stimme selbst abgibt und Mehrfachabstimmungen unzulässig sind, ist damit nicht gewährleistet.

Kurz um: Eine Wahl nach demokratischen Wahlgrundsätzen ist mit der offenen Struktur der Wikipedia, bei der auch Mehrfachaccounts möglich sind, naturgemäß unvereinbar. Es herrscht vielmehr eine „Diktatur der Insider„, Benutzer:Pjacobi:

„M.E. hilft es beim ruhigen Umgang mit der Wikipedia, wenn man Erfahrung bei der Mitarbeit an einem Open Source Softwareprojekt hat. Hier wie dort ist die Idee einer Demokratie im Projekt ziemlich absurd. Es herrscht die blanke Diktatur der ‚Insider‘, abgemildert durch eine meist vorhandene Freundlichkeit und Offenheit, die man nicht damit verwechseln sollte, dass man etwas ändern könnte, ohne – hoffentlich durch sachliche Argumente – die Insider zu überzeugen. Das einzig wirklich basisdemokratische ist das Right-To-Fork.“

Benutzer:Rrr (gesperrt) bringt es auf den Punkt:

„Macht steht immer in Gefahr missbraucht zu werden. Verfestigte Machtstrukturen, die unkontrolliert ausgeübt werden, sind schädlich. Wer etwas anderes glaubt, ist weltfremd, und hat die menschliche Natur nicht im geringsten begriffen. Ich sage also, jede Entscheidung in Wikipedia ist eine Entscheidung auf Zeit, der, der als Admin gewählt worden ist, wurde durch ein mehr oder weniger zufälliges Meinungsbild in einem zufälligen Augenblickszustand von Wikipedia gewählt, der ein Jahr später bereits als überholt betrachtet werden kann. Darum muss nicht nur das Wahlverfahren regelmäßig überprüft werden, sondern auch die Dauerhaftigkeit der Ausübung von Admin-Funktionen.“

Wikipedia ist keine Demokratie, sondern eine Enzyklopädie

Wikipedia kann keine Demokratie nach staatsrechtlichem Vorbild sein. Dennoch müssen Admins als herausgehobene Personengruppen mit besonderen Rechten strenger als bisher kontrolliert werden. Ein „Hier-gibt-es-keine-Demokratie“ darf es nicht geben. Jede Admin-Entscheidung muss auf den Richtlinien der Wikipedia beruhen. Entscheidungen müssen daraufhin geprüft werden können, ob sie angemessen sind im Sinne der Richtlinien.

Das ist bisher nicht möglich. Zwar sind Beschwerden über Admins möglich, die ihr Amt missbräuchlich ausgeübt haben. Auch gibt es ein Schiedsgericht, das sich als letzte Instanz mit einzelnen Admin-Entscheidungen befasst. Es fehlt jedoch eine Instanz, die darüber entscheidet, ob eine einzelne Entscheidung richtig oder falsch im Sinne der WP-Richtlinien war. Vorschläge dazu kommen aus der Wikipedia selbst:

  • Entscheidungen müssen angemessen sein. Es muss deshalb verbindliche Regeln darüber geben, wie lange Sperren für einen Verstoß ausgesprochen werden dürfen. Ansonsten entscheiden Admins willkürlich von Fall zu Fall.
  • Es ist nötig, Admin-Entscheidungen auf eine breitere Basis zu stellen, als dies bisher der Fall ist. Solange Admin-Entscheidungen vorrangig Verhandlungssache sind und davon abhängen, ob der betreffende Admin genug andere Benutzer (meist andere Admins) auf seine Seite bekommt, werden Richtlinien zur Nebensache degradiert.
  • Um Admin-Entscheidungen konkret überprüfen zu können, sind neue Strukturen notwendig. Ein Gremium etwa würde weniger angezweifelt werden als die Entscheidung einzelner Admins.
  • Veränderungen bedeuten nicht, dass die bisherigen Kontrollinstanzen abgeschafft werden müssen. Denkbar wäre auch eine übergeordnete Kontrollinstanz oder eine Änderung im Verfahren in den derzeitigen Kontrollinstanzen (z. B. der Sperrprüfung).

Widescreen, die zu diesen Vorschlägen ein Wikipedia:Meinungsbild entwickelt hat, konstatiert:

„Mit etwas gutem Willen kann so auch eine allseits akzeptierte Policy geschaffen werden, was die Angemessenheit von Adminentscheidungen betrifft, etwa unter welchen Umständen eine unbegrenzte Sperre angemessen ist oder wie hoch ein Sperre für ein Schimpfwort sein kann. Möglicherweise werden ausufernde Diskussionen ausbleiben, da irgendwann jeder Benutzer abschätzen kann, welche Anträge Aussicht auf Erfolg haben und welche nicht.  Aus diesem Grund könnte es sinnvoll sein eine zentrale Kontrollinstanz einzurichten, die Adminentscheidungen kontrolliert. Unter Umständen könnte das auch zur Abschaffung der Seiten Entsperrwünsche, Löschprüfung, Sperrprüfung und Administratoren Probleme führen, wenn dies sinnvoll erscheint.“

Benutzer:Marcus Cyron, der eine Reform der Projektorganisation der Wikipedia angestoßen hat, reicht ein Verweis auf die Richtlinien nicht aus. Er fordert „einen festen Regelkatalog“ in Form einer Verfassung, der Auskunft darüber gibt, was erlaubt ist und was nicht.

„Die Wikipedia braucht eine ‚Verfassung‘. Was darf ein Admin? Brauchen wir eine RRR-Regel? Was darf das Schiedsgericht? Wann ist ein Sperrverfahren nötig, wann eine normale Sperre. Und wie lange wofür? Wann muss ein Vermittlungsausschuß angerufen werden. Welche Benutzerrechte hat man, welche Benutzerpflichten? Als Admin kann ich sagen, dass man manchmal wirklich in der Klemme steckt. Eigentlich müsste man etwas tun, um dem Projekt zu helfen, davon ist man fest überzeugt. Aber man darf nicht, weil die aktuellen Regeln nicht zeitgemäß sind. Trollismus und Vandalismus, üble Nachrede auch auch willkürliche Entscheidungen von Admins sind mittlerweile keine Seltenheit mehr. Mehrheiten werden zudem immer wieder durch Sperrminoritäten blockiert.“

Fazit:

Dass es Reformbedarf gibt, liegt auf der Hand und wird selbst wiki-intern kaum noch bestritten. Vorschläge dazu gibt es mehr als genug. Welche Idee sich am Ende durchsetzt, ist hierbei nicht entscheidend.

Doch eines ist klar: Leitgedanke aller Reformer muss sein, neue Autoren zu werben und Neulinge an das Projekt zu binden. Es geht hier keineswegs darum, Admins an den Pranger zu stellen.

Die meisten von ihnen beweisen bei ihren Entscheidungen Augenmaß. Und doch kommt es immer wieder zu umstrittenen Löschungen, Sperren, die vor allem Anfänger kaum durchschauen und von einer langfristigen Mitarbeit an der Online-Enzyklopädie abschrecken.

Nicht die einzelnen Admins sollten in Frage gestellt werden, sondern einzelne Entscheidungen. Es ist daher sinnvoll, eine breite Diskussion darüber in Gang zu bringen, ob eine zusätzliche Instanz in Form eines Gremiums oder gar eine Verfassung einzuführen ist, um Wikipedia fairer, demokratischer und letztlich attraktiver zu machen.

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