Artikel auf Bestellung: Wie „Paid Editing“ Wikipedia verändert

Der durchschnittliche Leser, so das OLG München in seinem Urteil vom 10. Mai 2012, erwartet entsprechend dem Selbstverständnis von Wikipedia neutrale und objektive Information und keine Wirtschaftswerbung.

Auch nach dem Urteil des Oberlandesgerichts dürfen Unternehmen in eigenen Angelegenheiten Wikipedia-Beiträge erstellen oder ergänzen, sofern dies unter Nennung des Unternehmens und nicht anonymisiert oder verdeckt erfolgt, damit der Nutzer den Beitrag richtig werten kann.

Nicht jeder Edit eines Unternehmens stellt einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht dar und ist damit Schleichwerbung, die Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche von Mitbewerbern und Verbrauchern auslöst. Ein Verstoß ist nur dann gegeben, wenn der „kommerzielle Zweck der Geschäftspraxis nicht kenntlich gemacht wird“.

Dabei sein ist alles

Marketing – oder besser – PR ist in Wikipedia unter bestimmten Voraussetzungen also erlaubt. „Paid Editing“ verstößt auch nicht gegen die Grundprinzipien von Wikipedia.

So ist es nicht verwunderlich, dass Firmen wie FleishmanHillard oder Aufgesang gegen Bezahlung Inhalte in der Wikipedia überwachen, Fehler beseitigen und sogar ganze Artikel maßgeschneidert für Unternehmen verfassen.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Keine Enzyklopädie wird weltweit mehr genutzt als das Online-Nachschlagewerk. Fast jeder kennt Wikipedia. Ein großer Teil vertraut ihr uneingeschränkt. Wer neutrale Informationen sucht, geht oft als erstes zu Wikipedia. Das macht die Enzyklopädie für Unternehmen so reizvoll.

Risiken und Nebenwirkungen

Dass Wikipedia nicht als Werbeplattform missbraucht werden sollte, musste erst kürzlich die Stadt Köln schmerzhaft erfahren. Die Stadtverwaltung gab nach kritischen Presseberichten zu, dass eine PR-Agentur aus Österreich in ihrem Auftrag geschönte Texte zur Archäologischen Zone in die Internet-Enzyklopädie eingestellt hat. Der Artikel zum umstrittenen 52-Millionen-Euro-Projekt war reine Werbung: ausschließlich positiv und ohne jede Kritik, was auch innerhalb der Wikipedia-Community schnell auffiel.

Doch nicht jede Agentur geht derart dilettantisch vor wie die Firma aus Graz. Viele hochspezialisierte Social Media Experten kennen Wikipedia und ihre Regeln sehr genau. Sie wissen: Wer statt neutraler Inhalte plump Werbung in Wikipedia platziert, hat schnell einen schlechten Ruf.

Sparkassen, Mercedes, HanseMerkur und Otto Group

Um die nötige Transparenz herzustellen und Missbrauch zu verhindern, arbeiten viele Unternehmen mit verifizierten Benutzern. Die Benutzerverifizierung gibt Autoren, die im Auftrag eines Unternehmens in der Wikipedia mitschreiben, die Möglichkeit, ihre Identität gegenüber der Community zu beweisen.

Ohne ein verifiziertes Konto könnte theoretisch jeder im Namen eines Unternehmens an Artikeln arbeiten. Zu den Unternehmen, die mit einem verifizierten Benutzer in der Wikipedia arbeiten, zählen viele namhafte Marken. Mit Microsoft Deutschland ist auch einer der ganz großen Software-Konzerne dabei.

Kooperation statt Konflikt

Die Wikipedia-Gemeinde ist beim Thema „Paid Editing“ weit weniger gespalten als vermutet. Nur wenige sagen: „Bezahlte Artikel, nein danke!„. Die Mehrzahl setzt auf Kooperation mit bezahlten Schreibern. Wohl auch, weil sie ahnen, dass sich die professionelle Wikipedia-Beratung einschließlich Edit-Dienstleistungen in einem offenen System kaum wird verhindern lassen. Im Gegenteil: die Nachfrage nach solchen Leistungen wird weiter wachsen.

Benutzer:Hubertl fordert deshalb zum Umdenken auf. Geht es nach ihm, sollten Wikipedianer aktiv auf zukünftige Artikelschreiber zugehen. Gewinnen würden dabei beide Seiten: Wikipedia-Mentoren könnten die Profi-Autoren beim Schreiben regelkonformer Beiträge unterstützen. Als Gegenleistung könnten Unternehmen Bilder, Daten und andere Informationen anbieten, die sonst – beispielsweise über die Medien – nicht verfügbar sind.

Diese Form der Zusammenarbeit hätte weitreichende Folgen. Benutzer:Dirk Franke, der die Diskussion über „Paid Editing“ in der Wikipedia erst richtig ins Rollen brachte und ein Community-Projekt zu diesem Thema leitet, kann diesem Vorschlag nicht viel abgewinnen:

„Meines Erachtens ist es schon was anderes, verwirrten Hobbywikipedianern zu helfen oder Leute dabei zu unterstützen, geschäftlich tätig zu sein. Bei zweiterem hätte ich ja eher wenig Lust – kann sein, dass es den Mentoren anders geht, aber zumindest für selbstverständlich würde ich das nicht halten.“

Auch für Benutzer:Aschmidt ist Kooperation keine Lösung. Für ihn gefährden kommerzielle Schreiber schon heute die Glaubwürdigkeit von Wikipedia:

„Wenn sich das noch mehr ausbreitet, wird irgendwann die ganze Wikipedia zwar nicht werbefinanziert, aber voller direkter Werbung sein, weil es dann im Extremfall nur noch ‚Werbeartikel‘ geben wird, die von Honorarkräften geschrieben werden. Das gefährdet den Charakter des Projekts, und die Kommerzialisierung wird wahrscheinlich langfristig dazu führen, dass sich die meisten Autoren davon abwenden. Im Extremfall besteht die Community am Ende zum größten Teil aus Lohnschreibern. (…) Bei Wikipedia kann eben nicht jeder mitschreiben. Wir wollen hier keine Vandalen, keine Nazis und sonstige Rassisten oder Sexisten, keine qualitativ miesen Beiträge, aber eben auch keine Lohnschreiber. Hierzu bräuchten wir dringend ein Meinungsbild.“

Quo vadis, Wikipedia?

Wikipedia steht vor einem großen Problem. Freiwillige haben Wikipedia zu dem gemacht, was sie heute ist – zur größten und wichtigsten Enzyklopädie der Welt, in der das Menschheitswissen zusammengetragen und von jedem, der es nutzt, korrigiert werden kann.

Die Vision von Gründer Jimmy Wales: „Stell Dir eine Welt vor, in der das gesamte Wissen der Menschheit jedem frei zugänglich ist. Das ist unser Ziel.“ Diese Vision erst schafft die Motivation mitzumachen und das ehrenhalber und umsonst.

Doch bezahlte Profi-Schreiber schaffen eine ganz neue Konkurrenzsituation für die vielen freiwilligen Autoren. Benutzer:H-stt, der unverhüllt von „Hochverrat am Projekt“ spricht, bringt es auf den Punkt:

„Ich arbeite aber nicht ehrenamtlich in einem Feld, in dem Bezahlte mit mir konkurrieren. Das bedeutet, dass ich in diesem Fall sehr, sehr schnell das Projekt verlassen würde und mir einen anderen Lebensbereich für mein Ehrenamt suchen werde. Vielleicht wieder Naturschutz, vielleicht Seniorenbetreuung oder irgendwas dazwischen. Bezahlte Autoren grundsätzlich willkommen zu heißen und als ’normale‘ Autoren anzusehen, ist daher aus meiner Perspektive nicht einfach Ketzertum, sondern Hochverrat am Projekt.“

Die Community steckt in einer Zwickmühle. Sie kann die „feindliche Übernahme durch das Kapital“ (Benutzer:Aschmidt) hinnehmen bzw. auf Kooperation setzen. Benutzern, die „Paid Editing“ jedoch ganz ablehnen, bleibt letztlich nur die Möglichkeit, Wikipedia den Rücken zu kehren. Das hätte fatale Folgen für das Mitmach-Lexikon, das ohnehin schon mit einem massiven Autorenschwund zu kämpfen hat.

Doch muss das wirklich sein? Ist „Paid Editing“ wirklich so schlimm? Psychologisch ist die Reaktion der Wikipedianer, die bezahlte Inhalte ablehnen, nachvollziehbar. Bezahltes Schreiben ist ein Motivations-Killer für ehrenamtliche Autoren. Wer will schon umsonst schreiben, während andere für ihre Leistungen bezahlt werden? Es geht letztlich um das Selbstverständnis der Wikipedia-Community.

Doch tatsächlich ist Wikipedia keine durchweg „seriöse“ Plattform, in der Themen immer sachlich dargestellt werden und der persönlichen Standpunkt des Wikipedia-Autors außen vor bleibt. Das ist eine Wunschvorstellung. Vielmehr ist Wikipedia eine von vielen Einzelinteressen verzerrte Wissensansammlung.

Benutzer:MB-one sieht das ähnlich:

„Die Idee, dass eine bestimmte Motivation (Geld) böse, alle anderen (Interesse, politische Ansichten, Weltanschauung, Langeweile) aber gut sind, halte ich für abwegig. Was wir also brauchen ist a) Regeln: ‚wer darf was (nicht)?‘; und b) Aufklärung (nach außen und innen): ‚was erwartet einen potentiellen Lohnschreiber hier?’/’was bringt mir als Firma/Künstler/Behörde/NGO/Institution ein ein Wikipediaeintrag?’/’darf man dies oder das hier schreiben/löschen?‘. Dadurch, denke ich, dass verunsicherte Teile der Community zum Bleiben bewogen werden können, aber auch eine Gefährdung des Projekts durch bezahlte Aktivitäten ausgeschlossen werden kann.“

Entscheidend ist, was hinten herauskommt

„Paid Editing“ ist nicht mehr aufzuhalten. Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Denn durch diese Form der Partizipation kann die Qualität von Wikipedia sogar verbessert werden. Nur darf dabei die Glaubwürdigkeit nicht auf der Strecke bleiben.

Unternehmen, die Wikipedia-Artikel schreiben lassen, müssen auf werbliche Aussagen verzichten. Sie müssen sich auf lexikalische Information beschränken. Und sie müssen sich verpflichten, ihr Wissen mit der Gemeinschaft zu teilen. Jeder muss die Möglichkeit haben, diese Inhalte weiter zu nutzen. Entscheidend ist, was hinten herauskommt.

Für die Qualität eines Artikels ist es unerheblich, ob ihn jemand in seiner Arbeitszeit oder in seiner Freizeit geschrieben hat. „Das Schöne am Wissen im Gegensatz zum Kuchen ist, es wird durch Teilen mehr“, schreibt Barbara Fischer.

Das Wikipedia-Prinzip lautet: „Jeder kann mitmachen.“ Die Motivation ist dabei zweitrangig. Entscheidend ist, ob die Beiträge sinnvoll sind oder nicht. „Paid Editing“ ist keine Einbahnstraße. Autoren, die gewerblich in der Wikipedia tätig sind, können nur dann im Sinne ihres Auftraggebers erfolgreich sein, wenn ihre Beiträge nicht revertiert werden, also stehen bleiben. Um das zu erreichen, müssen sie sich an die Wikipedia-Grundsätze halten.

Fazit:

Das Editieren von Wikipedia-Artikeln durch Autoren, die Wikipedia nicht aus Idealismus, sondern zum eigenen finanziellen Vorteil bearbeiten, ist eine der großen Herausforderungen der Wikipedia.

Professionelle Autoren unterliegen einer Doppelfunktionen: Sie arbeiten für und im Sinne ihres Auftraggebers, müssen sich aber gleichzeitig als Teil der Wikipedia-Community verstehen – eine Gratwanderung, die nicht jedem PR-Profi gelingt.

Aber auch unbezahlte ehrenamtliche Autoren können einem Interessenkonflikt unterliegen und tun das auch. Was Wikipedia braucht, sind Mitarbeiter, die solche Konflikte frühzeitig erkennen und lösen.

Doch genau hier liegt das Problem. Wikipedia fehlen zunehmend Freiwillige, die sich dieser häufig frustrierenden (Fleiß-)Arbeit annehmen. Das Problem sind also weniger die „Lohnschreiber“, sondern das drohende Ungleichgewicht, das durch den kontinuierlichen Autorenschwund entsteht.

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5 Antworten zu Artikel auf Bestellung: Wie „Paid Editing“ Wikipedia verändert

  1. FYI: Denn anders als beispielsweise Benutzer:Aschmidt in seinem Beitrag für den Wikipedia:Kurier glaubt,… – Der Beitrag stammte von Benutzer:Gnom.

  2. Der Unterschied zwischen Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung bei der Meinungsäußerungsfreiheit dürfte bekannt sein. Das OLG München hat festgestellt, daß der Eingriff durch die EU-RiLi/UWG ein verfassungsrechtlich gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich darstellt. Wenn man dieser Auffassung folgt, ist verschleierte Werbung in Wikipedia durch die EU-RiLi/UWG untersagt und damit abmahnfähig. Grüße von der Uni Frankfurt am Main. 😉

  3. Olag sagt:

    Wiki-Watch müsste erklären, wie Wikipedia-konform offengelegt werden kann, dass eine Bearbeitung von einem Unternehmen stammt, bzw. eine Trennung von werblichen und „redaktionellen“ Beiträgen möglich ist. Ein Hinweis in einem Artikel über Insulinanaloga „Dieser Abschnitt wird Ihnen von Sanofi-Aventis präsentiert“, könnte im Prinzip Abhilfe schaffen, wäre aber wohl kaum mit den Grundprinzipien der Wikipedia vereinbar.

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