Seit sie im Jahr 1768 erstmals im schottischen Edinburgh herausgegeben wurde, war die Encylopaedia Britannica eine der bedeutendsten gedruckten Wissenssammlungen der Welt. Die Britannica ist die älteste regelmäßig verlegte englischsprachige Enzyklopädie. 32 Bände, über 60 Kilogramm Papier, zählte die Edition 2010. 65.000 Einträge enthielt sie. 4000 Autoren wirkten an ihr mit, etwa so berühmte Wissenschaftler wie Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman. 1.395 $ kostete die 2010er-Auflage. Doch von 12.000 gedruckten Exemplaren liegen noch 4000 im Lager des in Chicago ansässigen Verlages. 1990, im erfolgreichsten Jahr der Geschichte des Lexikons, wurden allein in den Vereinigten Staaten noch 120.000 Exemplare verkauft.
Nach 244 Jahren ist deshalb Schluss mit den dunklen Einbänden mit goldener Schrift. Es wird keine weitere Auflage gedruckt werden. Dies kündigte der Verlag in dieser Woche an. Papier als Trägermedium hat ausgedient. „Keine toten Bäume mehr“, schreibt lakonisch ein Autor im Blog des Time-Magazins. Die Encyclopaedia Britannica tritt vollständig ins digitale Zeitalter. Das Standardwerk wird weiterhin und künftig umfassender und mit mehr Multimedia-Elementen online, als DVD und in diversen mobilen Applikationen verfügbar sein. In dieser Woche ist die Nutzung von britannica.com als tröstende PR-Aktion kostenlos, gewöhnlich kostet sie 70 $ jährlich.
Die Webseite hat etwa 500.000 registrierte Nutzer. Zum Vergleich: Wikipedia nutzen mehr als 400 Millionen Menschen in aller Welt. Wikipedia-Gründer Jimmy Wales gab vor einem Jahr in der BBC das Ziel vor, bis 2015 eine Milliarde Nutzer zu erreichen.
Nostalgische Berichte sind nun zu lesen. So beschreibt die New York Times, welch Statussymbol die Encyclopaedia Britannica einst war. Sie zu besitzen, sei ein großes Ziel der aufstrebenden Mittelschicht der 1950er Jahre gewesen, von ähnlicher Symbolkraft wie ein Mittelklasse-Wagen in der Garage. Viele Familien hätten die Enzyklopädie in Raten bezahlt. Es fiel ihnen schwer, das Geld aufzubringen. „Vielen Dank, dass Sie die Welt wenigstens etwas weniger ungebildet gemacht haben“, kommentiert ein Wissenschaftler der Universität von San José im Britannica-Blog. Andere bitten den Verlag, die Entscheidung zu überdenken: Die digitale Entwicklung sei noch so kurz, die Tradition der gedruckten Enzyklopädie so lang.
Dies wird einen Verlag, der zuletzt noch ein Prozent seines Umsatzes mit dem gedruckten Lexikon machte, kaum umstimmen. 85 Prozent seines Umsatzes erwirtschaftet der Verlag mit Bildungsmaterialien, 15 Prozent mit seinen Online-Datenbanken.
Die Bezahlseite britannica.com steht also nun im direkten Wettbewerb mit der kostenlosen Wikipedia. Die genannten Nutzerzahlen haben gezeigt, wie klein die alte Enzyklopädie gegenüber Wikipedia dasteht. Gleiches belegen die 3,9 Millionen englischsprachigen Wikipedia-Einträge im Vergleich zu 65.000 bisher gedruckten Britannica-Artikeln.
Doch letztlich geht es weder um diese Zahlen, noch um den Verbreitungsweg auf Papier oder digital. Natürlich hat die Möglichkeit der Dokumentation und Verknüpfung jedweder Art von Information in Bild, Video und Text, der jederzeitigen Auffindbarkeit in Sekundenschnelle und der permanenten Aktualisierbarkeit es obsolet gemacht, Standardwerke wie die Encyclopaedia Britannica in regelmäßigen Neuauflagen zu drucken. Sie müssen permanent verfügbar und aktualisierbar sein. Die gedruckten Bände sind tatsächlich nur noch ein bildungsbürgerliches Statussymbol.
Es geht auch gar nicht so sehr um Qualität. Eine wegen der Grundlage von nur jeweils 42 untersuchten Artikeln umstrittene Studie des Magazins Nature aus dem Jahr 2005 sah die durchschnittliche Fehlerzahl in Wikipedia-Einträgen bei vier pro Artikel, in der Encyclopaedia Britannica bei dreien. Ein Vergleich der Enzyklopädien durch das britische Magazin MacWorld im Jahr 2011, über den Wiki-Watch hier berichtete, kam zu dem Ergebnis, dass das gedruckte Werk noch einen Vorsprung bei Prägnanz, Fundiertheit und Korrektheit seiner Einträge habe, Wikipedia dem Niveau aber erstaunlich nahekomme, aktueller sei und näher an populären Themen.
Das Ende der gedruckten Encyclopaedia Britannica führt vielmehr zurück zur Grundfrage, die Wikipedia in seiner elfjährigen Entwicklung aufgeworfen hat: Expertenwissen, redaktionell ausgewählt und aufbereitet? Oder die Weisheit unzähliger freiwilliger Autoren, die sich zusammenfügt und gegenseitig korrigiert? Man würde sich wünschen, beides könnte erfolgreich nebeneinander bestehen und sich ergänzen. Im wissenschaftlichen Bereich, in dem es unzählige Datenbanken und Fachzeitschriften gibt, die ebenfalls allgemeinen Standardwerken wie der Encyclopaedia Britannica den wirtschaftlichen Erfolg zuletzt schwer gemacht haben, funktioniert dies. Doch in der alltäglichen Wissenssuche und in den Anfängen jeder Recherche, die zumeist bei Google und/oder Wikipedia beginnt, haben die klassischen Werke mit ihrer alten und teuren Arbeitsweise auch online kaum eine Chance.
Gegenteilige Nachrichten gibt es überraschend dennoch hierzulande: Der Brockhaus soll wieder erscheinen. Nach der Ankündigung im Jahr 2008, dass es keine gedruckte Neuauflage geben soll, und der Übernahme durch eine Bertelsmann-Tochter hieß es von dieser gestern in der Süddeutschen Zeitung, eine Neuauflage sei für 2014 oder 2015 geplant.