Studenten gegen den Autorenschwund: Die Wikimania-Konferenz 2011 und die aktuelle Entwicklung der Enzyklopädie


Schon der Vergleich ist ein Ritterschlag für die Wikipedia. Das britische MacUser-Magazin verglich die englischsprachige Online-Enzyklopädie in seiner Ausgabe vom 8. Juli 2011 mit der Encyclopaedia Britannica, jener zwischen 1768 und 1771 erstmals in Edinburgh herausgegebenen, ältesten englischsprachigen Wissenssammlung und einer der berühmtesten Enzyklopädien der Welt. Die 32-bändige Britannica-Edition 2010 besteht aus 65.000 Einträgen von über 4000 Wissenschaftlern und Autoren, darunter etwa Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman. Wikipedia dagegen wird von einem Heer freiwilliger Editoren in aller Welt geschrieben, etwa 90.000 aktive Autoren sollen es nach Angaben von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales bei der am vergangenen Wochenende zu Ende gegangenen Wikimania-Konferenz in Haifa derzeit sein. Die Wikipedia-Statistik zeigt für Juni 2011 81.450 weltweit aktive Autoren an.

Das Magazin kam dennoch zu einem erstaunlichen Ergebnis: Einzig die Kinder-  und Studentenausgaben der DVD-Version der Encyclopaedia Britannica seien der englischen Wikipedia aufgrund ihrer großartigen Fähigkeit, Themen verständlich zu machen, voraus. Doch auch junge Menschen würden, so das Magazin, wenn es um Themen geht, die relevant sind für ihr Leben, eher auf Wikipedia zugreifen als in die digitale oder gar die gedruckte Britannica zu schauen. Wikipedia, ließe sich folgern, berichtet nicht nur ausschweifend über Popkultur, das Weblexikon ist Popkultur. So verliert die englischsprachige Wikipedia fast 10.000 Wörter über das iPhone, der Britannica ist das Apple-Handy 487 Wörter wert. Wikipedia berichtet in 12.500 Wörtern über die Science-Fiction-Serie Doctor Who, die Britannica in 283 Wörtern. Über Relevanz lässt sich eben streiten.

Die Analyse des Magazins spielt auch mit weiteren interessanten Vergleichswerten. So beschreibt die Encyclopaedia Britannica in einem 1000-Wörter-Eintrag die Wikipedia, während Wikipedia über die Geschichte der ruhmreichen englischen Enzyklopädie 10.000 Wörter schreibt. Und die Aktualität, häufig ein Problem der Wikipedia bei sich überstürzenden Ereignissen, bei denen das Weblexikon zu überhastet dokumentiert (jüngst analysierte Wiki-Watch etwa die Wikipedia-Einträge über die Anschläge von Oslo und Utøya), erläutert der Autor am Beispiel des englischen Wikipedia-Eintrags über Nick Clegg, den britischen Vizepremier. Selbst die 2011-Edition der Encyclopaedia Britannica-DVD beschreibt ihn nach Angaben des Magazins nur als Politiker, der 2007 zum Vorsitzenden der Liberaldemokraten gewählt wurde, obwohl er seit Mai 2010 Stellvertreter von Premierminister David Cameron ist. Die DVD allerdings verlinkt auf einen aktuelleren Onlineartikel, 800 Wörter lang. Der Wikipedia-Artikel hat 7500 Wörter, ist aktuell, umfassend und nach den Recherchen des Magazins korrekt.

Dennoch, das Fazit ist: Die Encyclopaedia Britannica ist der englischsprachigen Wikipedia weiter voraus in der Prägnanz, Fundiertheit und Korrektheit ihrer Einträge. Doch Wikipedia kommt dem erstaunlich nahe, ist zudem näher an aktuellen Entwicklungen, näher an populären Themen und einfacher und schneller zu benutzen. Das entspricht der Ansicht von Ulrich Johannes Schneider, Leipziger Philosophie-Professor und Direktor der dortigen Universitätsbibliothek, der, gefragt nach dem Verhältnis von Wikipedia zur gedruckten Konkurrenz, sagt:

„Sie hängt alle ab. Und das ist auch völlig richtig so. Das enzyklopädische Wissen war in den Büchern immer gefesselt. Es gehörte da nicht hin. Es gehörte immer schon ins Internet, das gibt es allerdings erst seit kurzem. Enzyklopädisches Wissen lebt auch von der Aktualität.“


Wikipedia als Wegbereiter freier Inhalte

Die Befunde zeigen einmal mehr den Stellenwert, den Wikipedia erlangt hat. Dieses Wertes versicherten sich auch die 650 Teilnehmer der Wikimania-Konferenz, des wichtigsten Treffens der weltweiten Wikipedia-Gemeinschaft, in der vergangenen Woche in Haifa an der israelischen Mittelmeerküste und diskutierten die Zukunft des Weblexikons. Der aktuelle Wikipedia-Signpost, die Mitteilungsseite der englischsprachigen Wikipedia, berichtet darüber in dieser Woche ausführlich. Das Programm der Wikimania ist hier abrufbar. Eine Sammlung der besten Zitate und Tweets der Konferenz findet sich in diesem Blog. Der WDR berichtete mit einem eigenen Online-Spezial.

Yochai Benkler, Professor am Berkman Center for Internet and Society der Harvard-Universität, und der erste Wissenschaftler, der sich im Jahr 2001 ausführlich mit Wikipedia beschäftigte, erinnerte in seiner Keynote an den entscheidenden Einfluss der Wikipedia auf die Entwicklung von Open Source als Prinzip großer Teile der jüngeren Internetentwicklung, und als Prinzip der Wissenschaft. Benkler sieht einen Wandel in vielen akademischen Disziplinen von einem egoistischen Marktdenken zu offener Kooperation über kollaborative Plattformen und Prinzipien, etwa in der Ökonomie, den Sozial- und den Naturwissenschaften. Wikipedia, so die These, war einer der Wegbereiter für freie Inhalte unter offenen Lizenzen, mit großer Ausstrahlungswirkung auf die Wissenschaft. Benkler erinnerte auch daran, wie bereits im Jahr 1999 die von Microsoft produzierte digitale Enzyklopädie Encarta der Encyclopaedia Britannica ernsthafte Konkurrenz machte – 1999 ahnte aber noch keiner, welch einen ungleich radikaleren Einschnitt die offene Wissensplattform Wikipedia bringen würde.


Die schrumpfende Männer-Enzyklopädie

Doch Wikipedia kämpft auch mit großen Problemen. Das größte ist der Rückgang der aktiven Autoren, nach den in diesem Blog dokumentierten Zahlen der Wikimania 2011 um etwa elf Prozent jährlich. Den Rückgang hatte die Editor Trends Study im April 2011 ausführlich analysiert (Wiki-Watch berichtete u.a. hier und hier darüber), seither wird er noch umfassender diskutiert als zuvor.

Gründer Jimmy Wales sprach bei der Wikimania-Konferenz davon, „der typische Freiwillige“ sei noch immer  „ein 26-jähriger männlicher Streber“, der sich später anderen Dingen zuwende, heirate und dann aufhöre. Andere verabschiedeten sich, weil der Bedarf an neuen Einträgen zurückgehe. Wales sieht vor allem das verworrene Regelwerk und die für neue Nutzer komplizierte MediaWiki-Software als Probleme und verspricht seit langem eine Vereinfachung. Die technischen Hürden seien so kompliziert, dass es „fast nur Computerfans“ gelinge, Wikipedia-Artikel zu bearbeiten, sagte Wales der dpa. Die technischen Schwierigkeiten hätten „viele, viele Menschen, große Teile der Öffentlichkeit“ faktisch ausgeschlossen. Auch sind sie, wohl neben der ruppigen Diskussionskultur vor allem der deutschsprachigen Wikipedia, die neben dem technischen Knowhow viel Durchhaltevermögen und Argumentationskraft für viele noch so kleine Änderungen erfordert, ein Grund dafür, dass der Frauenanteil unter den Wikipedianern weiter bei nur 13 Prozent liegt. Die „männlichen Streber“, nach Jimmy Wales, bleiben unter sich.

Derweil nimmt dem Signpost zufolge auch die Zahl derjenigen ab, die in der englischen Wikipedia als Administratoren kandidieren. Auch der harte Kern droht also zu schrumpfen.

Zu den aktiven 90.000 Editoren sollen bis Juni 2012 5000 neue kommen, um neues Leben in die Community zu bringen. Bei der Wikimania-Konferenz wurden dafür neue Ansätze diskutiert. Spiegel Online erzählt die Geschichte von zwei jungen Kasachen, die Jimmy Wales dabei als Beispiel dienten. Die Zahl der Autoren und Artikel aus Kasachstan ist explodiert seit die beiden die Erlaubnis bekamen, die Einträge eines kasachischen Lexikons zu Wikipedia-Einträgen zu machen. Hauptsächlich Studenten, zunächst 15, inzwischen 231, ließen die Zahl der Artikel von 7000 auf 70.000 anwachsen. Nun sollen Professoren mithelfen, die Qualität zu verbessern.

Studenten als Autoren der Wikipedia, Wikipedia-Einträge als Seminararbeiten: Dieses Konzept soll jetzt vertieft werden. 32 Hochschulen beteiligen sich bereits am Projekt der Wikimedia-Stiftung, etwa Harvard und Berkeley. Die Studenten erhalten Creditpoints für die Wikipedia-Mitarbeit. Spiegel Online berichtet auch über diese „nicht ganz so freiwilligen Helfer“, etwa einen Studenten der im Dezember 2010 über die Nationaldemokratische Partei Ägyptens, damals unter Husni Mubarak, schrieb. Während der ägyptischen Revolution wurde der Eintrag viel beachtet, erlangte Bedeutung, die eine einfache Arbeit an der Uni nie hätte erreichen können.

Die Wikimedia-Stiftung hat in der vergangenen Woche eine aktuelle Übersicht über die weltweiten Bildungsprogramme der Wikipedia veröffentlicht.


Innovation und Qualität der Wikipedia

Sue Gardner, Geschäftsführerin der Stiftung, kündigte zudem an, Wikipedia besser auf Smartphones und andere mobile Geräte bringen zu wollen. Die neue mobile Version der Wikipedia wird derzeit entwickelt. Gardner geht es darum, neue Editiermöglichkeiten zu schaffen für eine Welt, in der eine große Mehrheit der Nutzer Wikipedia nicht auf Desktop-Computern und Laptops, sondern auf Handys und Tablets nutzen werde.

Natürlich ging es in Haifa auch um die Qualität der Wikipedia. Jimmy Wales sieht die größten Schwächen der Online-Enzyklopädie in fehlerhaften Originalquellen. Das Leitmotiv der Wikipedia sei es, sich eng an verlässliche Informationsquellen zu halten. Doch wenn diese Fehler enthielten, fänden sich die Fehler auch in Wikipedia. Wales sagte, Wikipedia-Nutzer müssten die Benutzung des Lexikons lernen. So sollte Schülern und Studenten beigebracht werden, auf Warnhinweise bei besonders umstrittenen Artikel-Passagen zu achten. Dies ist etwa mit dem in Wiki-Watch integrierten WikiTrust-Tool möglich. Die englischsprachige Wikipedia testet zudem derzeit ein Article Feedback Tool, bei dem die Nutzer unter Wikipedia-Artikeln angeben können, für wie verlässlich, objektiv, präzise und gut geschrieben sie den Eintrag halten.


Was tun mit 30 Millionen Dollar?

Zwei Themen sorgten schließlich in Haifa für weitere Kontroversen. Die Wikimedia-Stiftung erhielt im vergangenen Jahr Spenden in Höhe von rund 20 Millionen Dollar. Allein 16 Millionen Dollar kamen durch kleine Spenden von durchschnittlich 22 Dollar, überwiesen von etwa einer halben Million Spendern weltweit, zusammen. Im Jahr 2011 peilt Wikimedia ein Spendenaufkommen von 30 Millionen Dollar an. Die jährlichen Betriebskosten der Enzyklopädie betragen etwa 5 Millionen Dollar. Die Wikimedia-Stiftung möchte nun verstärkt für Wikipedia-Wachstum in Entwicklungsländern sorgen und dort gezielt Projekte unterstützen. Derweil fürchten die großen nationalen Wikimedia-Organisationen, die die Hälfte der Spendeneinnahmen erhalten, um ihre lokalen Projekte.


Die Wikimania in Haifa und die Auswirkungen des Nahost-Konflikts

Und das zweite Thema: Der Tagungsort Israel machte es für arabische Autoren schwer, zur Wikimania-Konferenz anzureisen. Manchen wurde angeblich die Einreisegenehmigung verweigert, andere erhielten von ihren Ländern keine Ausreisegenehmigung oder beantragten diese aus Furcht vor Repressionen nicht. Nach Informationen des WDR kam kein einziger Teilnehmer der Wikimania 2011 aus einem arabischen Land.

Die Mitarbeit an Wikipedia kann auch eine fundamentale Frage der Meinungsfreiheit sein.

Die WDR-Autorin sprach hierüber mit dem israelischen Linguisten, Blogger und Wikipedianer Dror Kamir, über dessen Erkenntnisse insbesondere zur Rolle der Wikipedia in der ägyptischen Revolution auch Wiki-Watch berichtete. Dror Kamir hatte sich erfolglos um die Teilnahme arabischer Wikipedianer bemüht.

So ist Wikipedia einmal mehr auch ein Spiegel des Nahost-Konflikts. Kamir schrieb für die hebräische und englische, aber auch für die arabische Wikipedia. In der arabischen Sprachversion fand er antiisraelische Positionen, in der hebräischen proisraelische Standpunkte. Rechtsgerichtete israelische Organisationen hätten im vergangenen Sommer rund 50 Anhänger für „zionistisches Schreiben“ ausgebildet, der palästinensische Journalistenverband habe prompt dagegen gehalten. Dror Kamir bemüht sich mit dem Wiki-Projekt Israel um Neutralität, um saubere Quellenrecherche, bedauert aber gegenüber WDR.de: „Quellen werden immer angezweifelt, oder mit Gegenquellen befeuert.“ Und so beschreibt er auch seine Müdigkeit, Editier-Konflikte immer wieder durch akribische Kleinarbeit auszugleichen.

Er kümmere sich jetzt um die Versorgung von Schulen in Kamerun mit der Offline-Version der Wikipedia, sagt der Wissenschaftler.

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