Wie ein Pirat Wikipedia enterte: Ein Lehrstück über persönliche Biografien im Weblexikon


Am 28. Oktober 2009 wurde Angela Merkel durch den Deutschen Bundestag zum zweiten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt, es war der Beginn der Bundesregierung aus Union und FDP. Einen Monat später, am 27. November 2009, schreibt Dietmar Moews im Forum von Zeit Online: „Als politischer Geschäftsführer der Piratenpartei Deutschland teile ich mit: Die Piraten richten sich auf das Ende der schwarz-gelben Koalition ein.“

Angela Merkel regiert nach wie vor als Chefin dieser Regierungskoalition. Und Dietmar Moews? Er war offenbar nie „Politischer Geschäftsführer“ der Piratenpartei. Im Wiki der Piraten hieß es zu seiner Vorstandskandidatur 2010, er sei bekannt als „selbsternannter ‚politischer Geschäftsführer'“, diesen Posten habe es zu jener Zeit nicht gegeben.

Warum diese Vorgeschichte? Die Piraten und Wikipedia haben augenscheinlich ein Problem mit Dietmar Moews. Zunächst zu den Piraten: In seinem Video-Blog bei YouTube, in dem er aus seinem „Mobilen Büro für Lichtgeschwindigkeit“ berichtet, beschäftigte sich der Kandidat für die Bundesvorstandswahlen 2012 jüngst mit dem Israel-kritischen Gedicht von Günter Grass. Er schwadronierte über die „Tragik des Judentums“, das „überall Gastrecht beansprucht“ und sich als „die Geschundenen hinstellt“. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) berichtete darüber am vergangenen Wochenende. Das Fazit der FAS: „Ob Moews ein Antisemit ist oder nur ein kruder Kauz, das ist schwer zu sagen.“ Die Frage sei vielmehr, wie die Piraten mit ihm umgingen. Dass die Piratenpartei bei aller Offenheit, Pluralität und Egalität der Meinungen ein Problem mit rechtsextremistischen und antisemitischen Äußerungen einiger Mitglieder und Funktionäre hat, dokumentierten jüngst neben der FAS auch die Süddeutsche Zeitung und die Welt.

In der englischsprachigen Wikipedia beschreibt ein ausführlicher Eintrag das Leben und Wirken des Dietmar Moews. In den ersten Zeilen heißt es, er sei ein deutscher Künstler, am besten bekannt als Maler der deutschen Pop Art und postmoderner Kunstbewegungen. Zudem sei er ein Wissenschaftler, ein Philosoph, ein anerkannter Hafenbaumeister und Ingenieur, ein Soziologe, Musiker und Publizist. Zum (natürlich unpassenden) Vergleich: Über Angela Merkel heißt es in der englischen Wikipedia in den ersten Zeilen ihres Eintrags, sie sei deutsche Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende. Immanuel Kant war ein deutscher Philosoph. Punkt.

Der Unterschied zwischen den Wikipedia-Einträgen über Merkel, Kant und Moews: Merkel und Kant haben sich nach allem, was man weiß, keine eigenen autobiografischen Einträge gewidmet. Dietmar Moews dagegen beschreibt sich offenbar selbst in aller Ausführlichkeit.

In der deutschsprachigen Wikipedia wurden Moews‘ biografische Einträge in den Jahren 2005, 2007 und 2008 insgesamt vier Mal gelöscht. Ebenso erging es dem Eintrag über das von ihm verfasste „Manifest“ einer „Neuen Sinnlichkeit“ und dem Artikel über das von ihm angeblich betriebene „Alphons Silbermann Zentrum – Institut für europäische Massenkommuniktions- und Bildungsforschung.“

Dagegen gibt es den Eintrag über Dietmar Moews in der englischsprachigen Wikipedia nun seit sechs Jahren. Am 16. Dezember 2005 war ein ausführlicher biografischer Text über ihn als „article for creation“ vorgeschlagen worden. Sein „Meisterwerk und Diplom-Opus“ aus dem Jahr 1972 sei der von Moews entworfene Hafen von Norderney gewesen, hieß es darin. Am 4. Januar 2006 wurde dieser Text durch den englischsprachigen Autor „Dystopos“ in gekürzter, insgesamt neutralerer und sprachlich korrigierter Fassung als Artikel angelegt. Zwei Jahre lang geschah daraufhin wenig, bis zwischen dem 25. Februar und dem 11. März 2008 der Autor „Kiseidep“ den Artikel massiv ergänzte und in Zeitabschnitten neu strukturierte. Seither stand darin etwa, Moews habe bis zum Alter von 17 Jahren die gesamte Bibliothek seiner Eltern einschließlich der Gesamtwerke von Goethe und Nietzsche studiert. Seine künstlerischen Werke und Konzepte wurden ausführlich beschrieben. Auch habe er „eine Menge Musik gemacht“ und als exzellenter Musiker gegolten.

„Kiseidep“, der Autor dieser Abschnitte, die weitgehend unverändert den heutigen Wikipedia-Artikel darstellen, steht nach Auffassung der Wikipedianer, die seinen Eintrag diskutieren, für „Kinderseiten der Epochen“, ein weiteres Videoblog von Dietmar Moews. Auch dass seine ausführliche Biografie im Wiki der Piratenpartei aus sehr ähnlichen Textfragmenten besteht, spricht dafür, dass Moews selbst seinen englischsprachigen Wikipedia-Eintrag verfasste. Dies noch ganz ungeachtet vom die Person verehrenden Ton und der ungeheuren Detailfülle. Als Quellen dienen Kunstbände und Kunstkritiken im wesentlichen aus den 1970er und 1980er Jahren.

Damit verstößt der Eintrag über Dietmar Moews gegen die Wikipedia-Grundprinzipien des neutralen Standpunkts und der Nachprüfbarkeit der Inhalte. Er zeigt einmal mehr, dass eine Aussage über die Qualität der Wikipedia insgesamt nicht getroffen werden kann. Es kommt vielmehr auf den einzelnen Eintrag an. Biografien lebender Personen müssen besonders sorgfältig auf Interessenkonflikte geprüft werden. So sehen es auch die Wikipedia-Regeln vor, die dringend davon abraten, Artikel über sich selbst zu editieren und vielmehr dazu raten, in die Diskussion mit anderen Autoren einzusteigen.

Obwohl der Eintrag über Dietmar Moews seit Mai 2009 als überarbeitungsbedürftig und seit Dezember 2009 als wegen fehlender Neutralität fragwürdig galt, bedurfte es des Artikels in der FAS, um eine Löschdiskussion in Gang zu bringen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird der Artikel nach Ablauf der siebentägigen Diskussionsphase Ende dieser Woche gelöscht werden.

Doch Wikipedia und die Piraten werden das Problem mit notorischen Selbstdarstellern wohl behalten. Das Korrektiv, so schrieb die FAS, sei „im Zweifelsfall die Schwarmkritik des Shitstorm. Wenn man sich nur auf ihn verlassen könnte.“

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