Der Neutrale Standpunkt ist ein heiliges Prinzip der Wikipedia. Das Weltwissen soll so neutral und objektiv wie nur möglich zusammen getragen werden. Das gelingt längst nicht immer. Denn die eine naturwissenschaftliche Wahrheit gibt es selten. Das Nebeneinanderstellen und Abwägen von Argumenten ist eine schwierige Aufgabe. Dies gilt vor allem für kontroverse politische, religiöse und geschichtliche Zusammenhänge, bei denen schon das Aufgreifen oder Nicht-Aufgreifen eines Aspekts etwas über die persönlichen Ansichten eines Autors verraten kann.
Die Schwarmintelligenz allein – die divergierenden, sich gegenseitig ausgleichenden und korrigierenden Ansichten tausender freiwilliger Autoren – führt nicht zwangsläufig zu Objektivität. Statistische Werkzeuge wie Wiki-Watch stoßen daher bisweilen an ihre Grenzen: Wiki-Watch stellt dar, auf wie vielen Quellen ein Wikipedia-Artikel beruht, wie viele Autoren daran mitgearbeitet haben, wo es Konflikte gibt. Damit lässt sich die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit von Wikipedia-Einträgen vorbestimmen. Es ersetzt aber keinen Blick auf die Inhalte selbst. Denn auch in einem von hunderten Autoren aus aller Welt im Konsens erarbeiteten Artikel kann es Tendenzen geben.
Aufschlüsse darüber gibt nun eine amerikanische Studie. Zwei Wirtschaftswissenschaftler, Shane Greenstein von der Northwestern University und Feng Zhu von der University of Southern California, haben in einer groß angelegten Untersuchung politische Tendenzen in Artikeln, die sich mit amerikanischer Politik auseinandersetzen, bestimmt (Greenstein/Zhu, Collective Intelligence and Neutral Point of View: The Case of Wikipedia, 2012).
Das Ergebnis: Themen der amerikanischen Politik haben in der Wikipedia eine Tendenz zu Ansichten der Demokraten, doch diese nimmt kontinuierlich ab. Die Neutralität wächst.
70.668 Einträge filterten Greenstein und Zhu mithilfe eines Verfahrens aus der kommunikationswissenschaftlichen Analyse, davon ließen sich 28.382 Einträge (40,2 Prozent) auf Tendenzen untersuchen. Die Untersuchung erfolgte in den Wikipedia-Artikelversionen vom 16. Januar 2011. Die Forscher prüften die Wikipedia-Einträge auf bestimmte Stichworte, die sich den politischen Lagern zuordnen lassen. Zwar sind die Ergebnisse vorsichtig zu bewerten, da sich im breiten Meinungsspektrum innerhalb der politischen Formationen, aber auch zwischen gemäßigten Demokraten und Republikanern große Schnittmengen finden, die sich durch die Studie kaum erfassen lassen. Dennoch zeigen Greenstein und Zhu interessante Abweichungen auf, und es gelang ihnen, eine Entwicklung der englischsprachigen Wikipedia zu Themen der amerikanischen Politik nachzuzeichnen.
Sie legten 1000 häufig verwendete politisch konnotierte Begriffe zugrunde, die von den Wissenschaftlern Matthew Gentzkow und Jesse M. Shapiro für eine Analyse amerikanischer Zeitungen aus dem Congressional Record, den Protokollen des US-Repräsentantenhauses aus dem Jahr 2005, gewonnen und daraufhin analysiert wurden, ob sie zum demokratischen oder zum republikanischen „Sprach-Code“ gehören (Gentzkow/Shapiro, What drives media slant? Evidence from U.S. Daily Newspapers, Econometrica, Januar 2010, S. 35-61). Dazu gehören etwa:
- Abtreibung: nach der Untersuchung in der Wikipedia nur mit einer leichten Tendenz zu republikanischen Ansichten.
- Wirtschaft und Finanzen: mit einer leichten Tendenz zu den Demokraten. Handelsthemen dagegen mit einer stärkeren Tendenz zu den Republikanern.
- Bürgerrechte: mit einer stärkeren Tendenz zu den Demokraten.
- Außenpolitik, Fragen von Krieg und Frieden: mit ausgeglichenen Werten.
- Soziale Sicherheit: mit stärkeren Ausschlägen zu den Demokraten.
Eine überwiegende Anzahl der übrigen Kategorien von Begriffen (etwa: Unternehmen, Kriminalität, Drogen, Bildung, Energie, Familie und Kinder, Rolle der Regierung, Innere Sicherheit, Gesundheit, Verkehr und Infrastruktur, Arbeitsplätze) zeigt zumindest leichte Tendenzen zum Sprach-Code der US-Demokraten.
Die 70.668 Einträge waren bis zum Stichtag 16. Januar 2011 insgesamt mehr als 17 Millionen mal bearbeitet worden. Hiervon untersuchten Greenstein und Zhu für jeden der ausgewählten Artikel zehn Versionen von vergleichbarer Länge. Insgesamt analysierten sie 237.989 Änderungen der Einträge. Das Ergebnis ist erstaunlich: Die politischen Tendenzen in einzelnen Artikeln ändern sich im Laufe ihrer Entstehung und Entwicklung, aber dies nur in sehr geringem Maße. Mehr als 60 Prozent der Einträge behalten ihre ursprüngliche Tendenz bei. Nur verschwindend wenige 27 Artikel wandelten sich zu einer dezidiert demokratischen bzw. dezidiert republikanischen Richtung.
Mit diesem Verfahren konnten Greenstein und Zhu auch nachweisen, dass sich von 2002 bis 2010 der neutrale Standpunkt verstärkt durchsetzt in Wikipedia-Artikeln zu Themen der amerikanischen Politik. So lag eine Tendenz zu Positionen der Demokraten in den Artikeln im Jahr 2002 fast acht Mal häufiger vor als im Jahr 2010 (ein Wert von -0,53 im Jahr 2002 im Vergleich zu -0,07 im Jahr 2010; 0 ist der Mittelwert; positive Werte markierten eine republikanische Richtung).
In ihren Schlussfolgerungen schreiben die Forscher daher, der durchschnittliche ältere politische Artikel habe eine demokratische Richtung. Über die Zeit hat sich dies beinahe ausgeglichen. Doch diese Entwicklung beruht kaum auf der Weiterentwicklung der einzelnen Artikel. Nur eine sehr weiche Entwicklung hin zu mehr Neutralität sehen Greenstein und Zhu in den Alt-Artikeln. Der Ausgleich erfolgt vielmehr über neue, in die jeweils andere politische Richtung tendierende Wikipedia-Einträge.
So entsteht zwar Pluralität in der Wissenssammlung Wikipedia insgesamt. Doch diese hilft dem einzelnen recherchierenden Nutzer kaum, der zumeist das einzelne Stichwort sichtet, womöglich im Umfeld mit anderen verlinkten Beiträgen. Dieser Nutzer nimmt keine systematische Abwägung mit anderen Wikipedia-Einträgen vor. Aus der Flut individueller Positionierungen von Autoren in hunderten Artikeln und zugehörigen Diskussionen einen neutralen Standpunkt herauszulesen, dürfte auch unmöglich sein. Vielmehr müssen Wikipedia-Nutzer auf die Ausgewogenheit und Objektivität des einzelnen Eintrags vertrauen.
Für Deutschland gilt diese positive Tendenz noch lange nicht.
Auch heute noch gibt es von Anfang an verkorkste Artikel, wie etwa ACTA. Warum das so ist, hat Dieter Nuhr sehr gut analysiert in Pro ACTA. Die Mehrheit macht keine Wahrheit, auch, wenn es sich so anfühlt und man so die eigenen kleinen moralischen Verfehlungen scheinbar bedecken kann.