Tagesaktualität der Wikipedia

Geschichte wird sprichwörtlich von Siegern geschrieben. Wer beschreibt aber die Gegenwart, in der noch keiner gesiegt hat? Anders gesagt: Wer beschreibt die Gegenwart schnell und objektiv?

In zahlreichen Vergleichsstudien, in denen sowohl die deutsche als auch die englische Wikipedia gegen gedruckte Enzyklopädien antraten, gewannen diese in puncto Schnelligkeit haushoch. Das erscheint naheliegend, wenn man bedenkt, dass die Wikipedia ein Online Medium ist und ihre früheren Konkurrenten in gedruckter Form erschienen. Die Möglichkeit der Wikipedia schnell auf Veränderungen zu reagieren, ist sicherlich ein Alleinstellungsmerkmal. Andererseits gibt es auch keine enzyklopädische Konkurrenz mehr für die Wikipedia.

Auch wenn die Wikipedia ausdrücklich kein Newsportal sein will, so wird sie auch bei aktuellen Ereignissen als neutrales und zutreffendes Medium wahrgenommen.

Wird Wikipedia dieser Wahrnehmung gerecht?

Gegenstände der Untersuchung:

Um diese Frage hinreichend beantworten zu können, bedarf es mindestens eines Untersuchungsgegenstands.

Hier kommt als hochgradig polarisierendes Ereignis die US Präsidentschaftswahl 2016 in Frage. Auch deshalb war dieses Ereignis im Zusammenhang mit der Wikipedia bereits Thema dieses Blogs. Als weiterer Untersuchungsgegenstand, der näher an der Gegenwart ist, können die Sondierungsgespräche zur sogenannten Jamaika Koalition dienen.

Die Untersuchungsgegenstände sind damit benannt. Nach welcher Methode kann dieses unkonventionelle Medium beurteilt werden? Die Betrachtung der beiden Untersuchungsgegenstände hat einen Haken: Sie sind mehr oder weniger abgeschlossen, die Aktualität der Wikipedia zu diesen Ereignissen kann jedoch schwer beurteilt werden. Denn neue Entwicklungen zu diesen Themen sind nur noch spärlich zu erwarten.

Für den recht frischen Artikel zu den Jamaika-Sondierungsgesprächen 2017 mag das noch nicht unbedingt gelten, für die US Präsidentschaftswahl 2016 jedoch schon.

Hier könnte die Versionsgeschichte der Wikipedia von großem Nutzen sein.

Mit ihr lässt sich vergleichsweise einfach feststellen, wie schnell und umfangreich aktuelle Entwicklungen in die Artikel eingepflegt wurden.

Zunächst gilt es jedoch das aktuellere der beiden Ereignisse zu untersuchen:

Die Sondierungsgespräche zur Jamaika Koalition nach der Bundestagswahl 2017 sind vor gerade einmal sechs Wochen gescheitert. Die Sondierungsgespräche wurden von intensiver Berichterstattung in der Medienlandschaft begleitet.

Wie vollständig, neutral und zutreffend ist der Artikel zu diesem recht frischen Thema nach so kurzer Zeit?

Auf den ersten Blick wirkt abschreckend, dass jeder der drei Abschnitte des Artikels überarbeitungsbedürftig ist. Bis auf die These, dass „die Presse“ eine Schwarz-Grün-Gelbe Regierung als Bündnis der westdeutschen Mittelschicht ansehe, bleibt der erste Abschnitt keine Belege schuldig und beschreibt in angenehmer Kürze die Ausgangslage für die Sondierungen. Im genannten Absatz zur Charakterisierung der Dreierkonstellation als Bündnis der westdeutschen Mittelschicht wird jedoch eine recht starke Formulierung gewählt, obwohl als Beleg nur ein einzelner Bericht angefügt wird. Hier wäre es angemessen gewesen die Formulierung ganz zu entfernen oder zumindest klar zu machen, dass diese Ansicht nicht von anderen Medien aufgegriffen wurde.

In der Darstellung der Verhandlungen wird der Verhandlungsverlauf extrem knapp zusammengefasst. Obwohl ein Nutzer auf der Diskussionsseite darauf hinweist, dass mehrere Quellen existierten, mit denen eine neutrale Chronik der Verhandlungen erarbeitet werden könnte, geschah dies bis dato nicht. Der Erkenntniswert dieses Abschnitts ist dementsprechend gering.

Im Rest des Artikels begnügen sich die Autoren damit, mehr oder weniger ausführlich Äußerungen von Beteiligten und Unbeteiligten zu zitieren. Für Leser, die das Ereignis nicht in der Berichterstattung verfolgten, könnte dies einen Informationswert bieten.

Alles in allem fällt auf, dass der Artikel inhaltlich recht dürftig gehalten ist. Der geneigte Leser wäre, wenn er sich umfassend informieren wollte, besser damit bedient, Artikel zum Scheitern der Sondierungen in anderen Medien zu lesen. Diese bieten mindestens genauso viel Inhalt, wie der Wikipedia Artikel, in den meisten Fällen allerdings wesentlich mehr.

Kann die Wikipedia überhaupt aktuell und zutreffend sein?

Das Urteil der Wikipedianer, dass alle Abschnitte des Artikels einer Überarbeitung bedürfen, ist vollkommen zutreffend. Liegt das an diesem einen Thema oder sind es strukturelle Probleme, die das Schreiben von guten Wikipedia Artikeln zu aktuellen Themen erschweren?

Auf die seit Jahren schwindende Zahl an aktiven Autoren hinzuweisen, ist auch an dieser Stelle angebracht. Jedoch greift dieser Hinweis zu kurz.

Die Wikipedia hat das Problem, dass sie gerade bei aktuellen Themen auf Online-Berichterstattung angewiesen ist. Wo Themen nur unzureichend behandelt werden, kann die Wikipedia das nicht auf eigene Faust nachholen, da sie ihre Aussagen an Hand von Quellen belegen muss. Tut sie das nicht, wird sie ihrem enzyklopädischen Anspruch nicht gerecht.

Auf der anderen Seite kann Wikipedia durch die Gesamtschau vieler Medien ein ausgewogenes Bild bieten. Das muss jedoch nicht zwangsläufig so sein. Es braucht Autoren, die sich die Mühe machen, alle aktuellen Berichte zu sichten, zusammen zu fassen und in einem zutreffenden und ansprechenden Text zu zitieren.

Die Wikipedia kann also durchaus aktuell und zutreffend sein. Voraussetzung ist nur, dass es ausreichende Quellen gibt und motivierte Autoren. Ansonsten kann sie nicht mehr Erkenntnis bieten als ein Pressespiegel.

Vielleicht ist dieses Beispiel auch nur unglücklich gewählt. Am Beispiel des Wikipedia Artikels zur US Wahl 2016 lässt sich gut nachvollziehen, dass aktuelle Entwicklungen sehr schnell und umfassend in den Artikel eingepflegt werden können. Nachvollziehen lässt sich das mit Hilfe der Versionsgeschichte, aus der hier zitiert wird. Diese finden sie am oberen Rand jedes Wikipedia Artikels links neben der Suchleiste. Das Ganze sieht dann zum Beispiel so aus:

(Sollten sie Probleme haben, diese  oder die folgende Grafik zu erkennen, können sie sie per Mausklick vergrößern.)

Der Rückzug des republikanischen Bewerbers Ted Cruz aus dem Rennen um die republikanische Kandidatur am 3. Mai 2016 fand bereits am nächsten Tag Eingang in die Wikipedia.

Hier zeigt sich anschaulich, dass motivierte Autoren schnell gute Arbeit leisten können.

Fazit:

Die Stichprobe zur Klärung der Güte von Wikipedia Artikeln zu laufenden Entwicklungen liefert ein gemischtes Bild. Durchweg hohe Qualität ist nicht erkennbar. Die enzyklopädische Bearbeitung von Themen braucht Zeit und viele fleißige Autoren. Dass die Wikipedia deshalb ausdrücklich kein Nachrichtenportal sein möchte, ist nur folgerichtig.

Den Lesern kann daher nur nahegelegt werden, ihre aktuellen Informationen auf anderen Kanälen zu suchen.

Wie immer interessiert uns natürlich Ihre Meinung zu diesem Thema, liebe Leser des Wiki-Watch Blogs! Nutzen Sie Wikipedia, um laufende Ereignisse zu verfolgen? Auf welche Methode greifen Sie zurück, um sich einen schnellen Überblick über die Nachrichtenlage zu solchen Themen zu verschaffen?

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