Wikipedia und das eiserne Gesetz der Oligarchie

In diesem Post berichten wir über zwei neue Studien, die sich mit der Evolution der Wikipedia beschäftigen. Sie werfen ein düsteres Licht auf die Zukunft der Online-Enzyklopädie. Wir stellen sie Euch vor und beschreiben die Reaktionen.

Wikipedias Idee, Wissen miteinander zu teilen, begeistert Menschen auf der ganzen Welt. Doch eine aktuelle Studie (PDF) von Bradi Heaberlin und Simon DeDeo von der Indiana University Bloomington zeigt, dass dieses System nicht so gut zu funktionieren scheint, wie viele glauben. Tatsächlich habe sich die Online-Enzyklopädie von ihren frühen Idealen weit entfernt und sei zu einer konservativen, geschlossenen Bürokratie verkommen, die durch eine kleine Elite regiert wird.

Evolutionärer Stillstand

Die Wissenschaftler, die für ihre Untersuchung Daten der Enzyklopädie von 2001 bis 2015 auswerteten, stellten mehrere Besonderheiten bei Wikipedia fest. Evolutionär habe sich Wikipedia ziemlich konservativ entwickelt und die zu Beginn festgelegten Normen seien größtenteils beibehalten worden. Trotz des schnellen Wachstums der Community blieben die meisten der ursprünglich entwickelten Grundwerte („core norms“) unverändert, so die Studie.

Diese Grundwerte wie „verletze dein Gegenüber nicht„, „sei neutral„, „geh von guten Absichten aus“ und „belege alles, was du schreibst“ seien ursprünglich als lose Richtlinien gedacht gewesen, die im Verlauf der Evolution von Wikipedia wieder verworfen oder geändert werden. Aber dazu kam es nie.

Robert Michels vermutete, dass jede Organisation letztendlich zur Bildung einer Oligarchie führen müsse. Foto von Ssociólogos - http://bit.ly/1W2VeAe, CC BY 3.0, http://bit.ly/21r6OFo.

Die Wissenschaftler fanden heraus, das 89 Prozent dieser „Normen“ immer noch die gleichen sind wie am Anfang und mittlerweile einen fast schon mystischen Status genießen, erklärt Jennifer Ouellette vom einflussreichen Gadget-Blog Gizmodo. Mit anderen Worten: Die ersten Mitglieder der Community gaben den Ton an und alle Nachfolgenden fühlten sich gezwungen nachzuziehen.

„All of these core norms were created early in the system’s history. The majority were created before 2004, when the population was less than 3% of the March 2007 peak. The earliest members of the community first defined and articulated its core norms“

Regiert von einer kleinen Elite

Außerdem gehorche Wikipedia dem „eisernen Gesetz der Oligarchie„. Die Wissenschaftler spielen damit auf das vom deutsch-italienischen Soziologen Robert Michels vorgelegte Werk „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“ an. Michels arbeitete in dieser Fallstudie der deutschen Arbeiterbewegung heraus, „dass jede Organisation, gleich, wie demokratisch oder autokratisch ihre Ideologie zu Beginn gewesen sein mochte, letztendlich zur Bildung einer Oligarchie führen müsse“. Seine Kernthese lautet:

„Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden.“

Für Michels führe die Etablierung einer Parteiorganisation zwangsläufig zu einem Verlust der innerorganisatorischen Demokratie und zu einem Verlust der Dynamik der Gruppe infolge der Trägheit bürokratischer Apparate.

„So wird die Organisation von einem Mittel zum Zweck zu einem Selbstzweck“

Auf Wikipedia übertragen bedeutet dies: Nur eine kleine, privilegierte Elite, deren Interessen sich immer weiter vom Rest der Gruppe entfernen und die eigenen Bedürfnissen und Zielen nachgeht, hat das Sagen bei Wikipedia. Und diese Tendenz werde sich in Zukunft noch verstärken. Mit den Worten von DeDeo:

„You start with a decentralized democratic system, but over time you get the emergence of a leadership class with privileged access to information and social networks. Their interests begin to diverge from the rest of the group. They no longer have the same needs and goals. So not only do they come to gain the most power within the system, but they may use it in ways that conflict with the needs of everybody else.”

„Der aussterbende männliche Schwarm“

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Wissenschaftler aus Korea. Wie die linke Tageszeitung taz in ihrer Online-Ausgabe berichtet, könnte Wikipedia unter der Last seiner Ungleichheit schon bald zusammenbrechen. Das Forscherteam um Jinhyuk Yun analysierte (Abstract und Volltext) dem Beitrag zufolge über 34 Millionen Wikipedia-Artikel, fast 590 Millionen Änderungseinträge – zwei komplette Wochen Prozessorenarbeit. Ihr Ergebnis: Die Zahl der Autoren begann zu schrumpfen, und mit ihnen wuchs der Einfluss einiger weniger.

„Langfristig jedoch glauben wir, dass die Entwicklung der sinkenden Autorenzahlen zu einer existenziellen Bedrohung für Wikipedia wird.“

Aufgrund ihrer polarisierenden Natur übten kontroverse Themen, etwa die Anschläge vom 11. September 2001, für Autoren einerseits den größten Reiz aus, sie aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sinke jedoch bei jenen besonders häufig editierten Artikeln die Anzahl an Nutzern mit der Zeit am drastischsten. Konkret: Die meistdiskutierten Artikel würden schlussendlich von einigen wenigen Individuen dominiert. Durch ihre Hartnäckigkeit bauen die „super editors“ einen elitären Zirkel auf – und schrecken potenzielle neue Autoren ab, so Fabian-Kretschmer von der taz.

Shitstorm aus der Wikipedia-Community

Taz-Autor Kretschmer musste nicht lange auf den Shitstorm warten. Kurz nach Erscheinen seines Beitrags erschienen die ersten polemischen Anmerkungen zu seinem Text, in denen er nicht nur wegen der falschen Schreibweise „Jinyhun Yun“ als „Stümper“ bezeichnet wird. Auch der Journalist und Autor der Studie „Verdeckte PR in Wikipedia“ (hier unser Faktencheck) Marvin Oppong übte via Twitter inhaltliche Kritik an dem Text.

Die Community legte umgehend nach und offenbarte weitere Schwächen in dem Artikel. Auch die Studie selbst konnte nicht überzeugen. Zudem können viele Teilnehmer an der Diskussion die These vom „Untergang der Wikipedia“ nicht mehr hören.

„Die zunehmenden Wikipediadämmerungs-Abgesänge der Journalisten rühren wohl daher, dass sie angesichts sinkender Auflagenzahlen und unbefriedigender Zugriffszahlen ihre gut bezahlten Felle wegschwimmen sehen – ein generelles Problem der Konkurrenz durch Internet-Umsonstkultur. Da können die Zeitungen aber nur mit wirklichem Qualitätsjournalismus entgegensteuern. (Benutzer „Superikonoskop“ in der Diskussion zum Kurier-Artikel “Ein Leckerli für Freunde des Qualitätsjournalismus”)

Doch die Kernfrage bleibt: Wird Wikipedia wirklich von ein paar wenigen „Super Editoren“ dominiert und führt das langfristig zu einem Problem?

Update: Fabian Kretschmers taz-Artikel erschien in leicht geänderter und – jedenfalls zum Teil – korrigierter Form nun auch in der Online-Ausgabe der österreichischen Tageszeitung Der Standard.

Enzyklopedie

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