Das ZDF-Experiment „Faktencheck“ löst heftige Debatten aus

Pünktlich zur heißen Phase des Wahlkampfes zur Bundestagswahl startet das Zweite Deutsche Fernsehen unterstützt von Wikimedia Deutschland das Online-Projekt „Faktencheck“ und sorgt für eine Überraschung.

Das ZDF hat die Zeichen der Zeit erkannt. Nach langem Stillstand geht der Sender den digitalen Wandel an und experimentiert mit freien Inhalten. Bei der Vorstellung des Kooperations-Projekts auf der re:publica 2013 gab es dafür viel Applaus.

Die Forderung an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Inhalte unter Creative-Commons-Lizenzen offen zugänglich zu machen, ist nicht neu (siehe hier oder hier). Erste Erfahrungen hat der NDR gesammelt. Im Rahmen eines Pilotversuchs wurden 2007 ausgewählte Beiträge des Medien-Magazins Zapp und der Satire-Sendung Extra 3 unter einer CC-Lizenz zur Verfügung gestellt. Eine Übersicht zu den CC-Videos des NDR gibt es hier. Auch die Sendung „Elektrischer Reporter„, die auf dem ZDFinfokanal zu sehen ist, bietet CC-Inhalte an. Seitdem ist wenig passiert.

Kleine Schritte Richtung freie Inhalte

Nun geht der Sender aus Mainz einen weiteren Schritte in Richtung freie Inhalte. Die für die „Faktencheck“-Webseite produzierten Infografiken, Interviews und Texte werden unter der Lizenz “Creative Commons Namensnennung stehen. Die Inhalte können vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden. Abwandlungen und Bearbeitungen der Inhalte sowie die kommerzielle Nutzung sind unter Nennung des Urhebers ebenfalls zulässig.

Unter die freie Lizenz fallen nach Aussage des ZDF auch Videos. Zu diesem Zweck wurde die ZDF-Mediathek durch eine Funktion ergänzt, mit der Videos unter CC-Lizenz heruntergeladen werden können.

Und wie funktioniert der Faktencheck? Im Berliner Hauptstadtstudio des ZDF wird es bis zu zehn Redakteure geben, die Themen und Aussagen von Politikern sichten, auswählen und recherchieren. Eine Redaktion trifft also eine Vorauswahl der Fakten, die gecheckt werden sollen, vor allem um politische Einflussnahme zu verhindern.

Wikimedia Deutschland (WMDE) unterstützt das Projekt, indem der Verein die ausgewählten Aussagen von Politikern in die Wikipedia-Community einbringt und die Benutzer dazu auffordert, sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.

Die Kommunikation zwischen Sender und Community übernimmt ein von WMDE gestellter „Wikipedian in Residence“. Die Ergebnisse des Community-Faktenchecks sollen im laufenden Programm und in eigenen Sendungen Eingang finden.

Scharfe Kritik am ZDF-Deal

Doch das ZDF hat sich offenbar den falschen Partner ausgesucht: Das Projekt stößt bei der Community auf wenig Gegenliebe und wird kontrovers diskutiert. Laut einer Wikipedia-Umfrage lehnt eine überwiegende Mehrheit die Kooperation ab.

Die Gründe für die Ablehnung des Projekts sind vielfältig. Kritisiert wird, dass sich die neu erstellten Inhalte kaum für die Verwendung in der Wikipedia eignen würden. Das ZDF schmücke sich mit dem guten Ruf der Crowdsourcing-Plattform. Der Nutzen für die Wikipedia gehe gegen Null. Schlesinger sorgt sich gar um den guten Ruf der Enzyklopädie:

“Denke, dass die DE-Wikipedia ihren guten Ruf nur behalten wird, wenn sie zu allem, was staatstragend, regierungsnah und lobbyistisch ist, eine gut durchdachte und weise Distanz hält.”

Andere betonen die falsche Ausrichtung des Projekts: Fakten sollten von professionellen Journalisten überprüft werden – ein Faktencheck sei die originär journalistische Aufgabe des öffentlich finanzierten Journalismus. Wikipedianer seien nicht automatisch bessere Faktenchecker. Denn nicht jeder von ihnen habe eine völlig neutrale Grundeinstellung zu politischen Themen.

Die Empörung ist auch deshalb groß, weil WMDE über die Köpfe der Community hinweg entschieden hat. Es sei eine Frechheit von Wikimedia, “ohne jede vorherige Absprache unsere Mitarbeit feilzubieten, um sich Türen bei den Öffentlich-Rechtlichen für die eigene Propaganda zu öffnen.”, meint verärgert Benutzer:Martina Nolte.

Mut zum Scheitern

Die Befürworter des Crowdsourcing-Fakten-Checks können die Aufregung nicht nachvollziehen. “Sei mutig“, lautet ihre Parole. Die Offenheit von Wikipedia habe sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Was spreche dagegen, sich Neuem vorbehaltlos zu öffnen, etwas Neues auszuprobieren? Schließlich sei niemand gezwungen, sich “embedden” zu lassen.

„Sei Mutig! bedeutet auch Projekte zu wagen, die bei ihrem ersten Versuch scheitern können.“ (Jens Best, „Sei Mutig!“ Faktencheck Wikimedia-Communitys)

Es entstünden viele freie Inhalte, die Wikipedia gut gebrauchen kann. Einen Versuch sei es allemal wert. “Auch und vor allem, um die Freien Lizenzen tiefer im Bewusstsein der Öffentlich-Rechtlichen Anstalten zu verankern,” fügt Raymond hinzu.

Sebastian Wallroth und Jens Best, Mitglieder im Präsidium von Wikimedia, mischten sich stellvertretend für den Verein in die Diskussion ein. Sie sehen in der Wikipedia viel mehr als nur ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie.

Sie fordern: “Wikipedia muss erwachsen werden”. Die  Enzyklopädie müsse sich als Teil von etwas Größerem verstehen und sich nicht immer nur um sich selbst drehen. Wallroth plädiert für mehr Offenheit und den Mut der Community, Verantwortung zu übernehmen:

“Da draußen sind Rechts-, Bildungs- und Wertesysteme, die mit der digitalen Revolution zurecht kommen müssen. Und wenn ein paar Wikipedianer sich aufmachen, die Welt zu ändern, dann sind sie keine Abtrünnigen, sondern Botschafter. (…) Aus der gemeinschaftlichen Erstellung der größten Wissenssammlung aller Zeiten erwächst Verantwortung, vor der man sich nicht durch das Zuhalten von Augen und Ohren verstecken kann.”

Wallroth ist überzeugt, dass die Unterstützung von freien Lizenzen, freiem Wissen und neue Arten der Zusammenarbeit notwendiger Teil des Projektes sind. Best schrieb dazu in seinem umstrittenen Kurier-Beitrag “Sei Mutig!”:

“Es hat sich einiges Gutes getan seit die Wikipedia begonnen wurde. Es wird Zeit, nicht wie eine beleidigte Glucke auf dem Erreichten zu sitzen, sondern die Wikimedia und ihre Communitys als kräftigen, streitbaren und handlungswilligen Knotenpunkt im Netzwerk des richtigen Wandels zu verstehen.”

In der anschließenden Diskussion wurden Wallroth und Best teils heftig attackiert. Martin Bahmann, Kmhkmh, Aschmidt und andere kritisieren die “abgehobene” Haltung des Vereins.

Die Kernaufgabe der Wikipedia sei der Aufbau einer Enzyklopädie und nichts anderes. Die Unterstützung von freien Lizenzen, freiem Wissen und neue Arten der Zusammenarbeit seien nicht notwendiger Teil des Projektes.

Mit ihrer Haltung würde sich Wikimedia immer weiter von der Community entfernen. Benutzer:Kmhkmh fasst es so zusammen:

“Wenn WMDE-Mitglieder beim Erwachsenwerden feststellen, das Unterhalt/Förderung von WP ihnen als primäre Aufgabe nicht ausreicht, dann sollten sie ihre Selbstfindung und weitergehenden Ziele separat von WP verfolgen (im Zweifelsfall auch in einem zusätzlichen Projekt oder gar Verein) anstatt sie bei WP draufzusatteln.”

Ist das Projekt schon vor dem Start gescheitert?

Das ZDF-Projekt musste schon vor seinem Start viel Kritik einstecken. Kann es überhaupt noch ein Erfolg werden? Kommt es darauf überhaupt an?

Die Diskussion hat gezeigt, dass Wikimedia sehr aufpassen muss, sich mit Projekten wie dem ZDF-Faktencheck nicht zu sehr von der Community zu entfernen. Viele nehmen es Wikimedia Deutschland übel, die Arbeitskraft von Wikipedianern feil zu bieten, ohne eingehende Vorabprüfung und Meinungsbildung in der Community. Die Kritik ist verständlich.

Doch Konsens kann und wird es bei solchen Entscheidungen nie geben. Zu jeder einzelnen Maßnahme des Vereins wird es immer ganz unterschiedliche Auffassungen geben, Widerspruch, Diskussion. Und das ist gut so, erläutert Benutzer:Lyzzy:

“Denn nur so werden die möglicherweise unterschiedlichen Perspektiven deutlich und können bei weiteren Planungen berücksichtigt werden. Das wird ja nicht ungelesen archiviert, was hier beigetragen wird. Ich möchte allerdings auch nicht diejenigen ignoriert wissen, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen in solchen Diskussionen nicht zu Wort melden und die Arbeit von WMDE grundsätzlich gut heißen, auch wenn sie vielleicht nicht mit jeder Einzelentscheidung zufrieden sind. Wie in jeder dieser Diskussionen ist es auch hier zu einfach, die Beitragenden als “die Community” zu verkaufen (um diesen Aspekt auch mal von der anderen Seite aufzugreifen).“

Ob das Experiment des ZDF Erfolg hat, wird sich zeigen. Die Kooperation mit dem Bundesarchiv hat gezeigt, dass eine Zusammenarbeit mit Wikipedia besonders dann zündet, wenn sie für das Online-Nachschlagewerk von Nutzen ist. Noch lässt sich nicht abschätzen, was Wikipedia mit den ZDF-Daten am Ende wirklich anfangen kann.

Das Risiko für Wikipedia ist überschaubar. Wenn das Projekt scheitern sollte, wirkt sich das kaum auf die freie Enzyklopädie aus. Ein Erfolg aber bedeutet: Auch andere Sender könnten Gefallen finden am Experimentieren mit Open Content. Das alleine wäre schon ein großer Erfolg.

Mut zum Experiment
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