Wie frei ist die „freie Enzyklopädie“ wirklich?

Die Wikipedia ist ein offenes Projekt, bei dem jeder mitarbeiten darf – theoretisch. Praktisch gibt es einige Hürden. Neulingen wird der Einstieg durch eine komplizierte Textgestaltung erschwert. Mit der neuen Bearbeitungsoberfläche “VisualEditor”, die seit dem 25. April 2013 im deutschsprachigen Raum als Alpha-Version zur Verfügung steht, hat sich die Situation verbessert. Doch nur wenige Autoren nutzen die neuen Möglichkeiten.

Zusätzlich sorgen strenge Regeln und bestimmte Algorithmen zur Prüfung neuer Lexikon-Einträge dafür, dass neue Autoren nicht mehr so lange dabei bleiben, heißt es in einer aktuellen Studie der Universität Minnesota. “Ironischerweise” hätten die Regeln, die eigentlich den Umgang mit der ständig wachsenden Informationsfülle erleichtern sollen, dazu geführt, dass die Flut neuer Beiträge abgeflaut sei.

Nicht jeder ist willkommen

Ein aktueller Streit zwischen der englischen Wikipedia und der University of Toronto macht ein weiteres Problem sichtbar: In der Online-Enzyklopädie ist offenbar nicht jeder willkommen.

Was war passiert? Ein Professor hatte 1.900 Erstsemester der Psychologie dazu aufgefordert, selbst ausgewählte Einträge zu fachbezogenen Themen zu verbessern. Es war nicht das erste Hochschulprojekt dieser Art: Bereits 2011 startete Prof. Steve Joordens ein Bildungsprogramm in der Wikipedia.

Der Anstoß dazu kam 2010 von der Wikimedia Foundation selbst. Die Idee hinter dem Bildungsprogramm: Professoren auf der ganzen Welt sollen Wikipedia als Lehrmittel in der Ausbildung verwenden. Die Foundation betreut derzeit vier Programme: in Brasilien, Kanada, Ägypten und den USA. Die University of Toronto war die erste kanadische Uni, die an dem Projekt teilnahm.

Steve Joordens hoffte, das sich Projekt für beide Seiten auszahlt: In der Wikipedia sollte das Niveau von Beiträgen zum Thema Psychologie steigen. Seinen Studenten wollte der „Professor des Jahres“ nahebringen, wie man Wissen in sozialen Netzwerken teilt.

Doch trotz der guten Absichten ging der Plan nach hinten los. Die Änderungen der Studenten wurden von den Platzhirschen des Online-Lexikons gar nicht gern gesehen. Es entbrannte eine feindselige Diskussion, deren Umfang auf über 55 DIN-A-4-Seiten angewachsen ist.

Die Grenzen der Wikipedia

Der Vorwurf der Wikipedianer ist immer der gleiche: Die Edits der Studenten seien schlecht oder enthalten plagiierte Texte und würden mehr schaden als nützen. User Colin und andere forderten dazu auf, die Benutzer-Accounts und die IP-Adressen der University of Toronto zu sperren, um den “Massen-Vandalismus” zu stoppen. Einige Benutzer schreckten offenbar auch nicht vor Cyberstalking zurück. Willkommen bei Wikipedia!

Joordens – in der Wikipedia als Benutzer:WoodSnake unterwegs, verteidigt seine Studenten. Anfängerfehler seien unvermeidbar. “Massen-Vandalismus” könne er nicht erkennen: Nur in etwa 33 der 910 bearbeiteten Artikel seien gravierende Probleme aufgetreten. Warum also diese feindselige Stimmung in der Community?

Steve Joordens, der schon seit 17 Jahren in Toronto unterrichtet, hatte sich in einem entscheidenden Punkt geirrt. Die Communitys in der Wikipedia sind wesentlich kleiner als von ihm angenommen.

Nicht ein riesiger Schwarm („Weisheit der Vielen“) entscheidet über das Wissen der Welt. Es sind kleinere Gruppen, die sich bestimmten Themen angenommen haben und diese überwachen. Diese “Clique” ist schlicht damit überfordert, Änderungen dieser Größenordnung zu verarbeiten:

“I assumed that the current core of editors was extremely large and that the introduction of up to 1000 new editors would be seen as a positive. However, the current core of editors turns out NOT to be that large, and even if my students were bringing signal along with noise, the noise was just too much to deal with on the scale it was happening. Thus what I interpreted as a resistance to Wikipedia “immigrants” was really a resistance to the sheer number of immigrants arriving at once. I was expecting too much of the current Wikipedia community, they became annoyed and frustrated and thanks to what I now view as our mutual misunderstanding of the problem, things became heated to a point I personally found somewhat ridiculous.”

Hinzukommt ein weiterer Aspekt: Kollaborative Online-Projekte wie Wikipedia brauchen Führung. Eifrige Editoren und Adminstratoren spielen dabei die Rolle des Gatekeepers. Sie korrigieren Fehler, kämpfen gegen Vandalismus und halten so die Seiten sauber. Es ist wichtig, dass es die „Wikipedia-Polizei“ gibt.

Doch das Projekt krankt an zunehmender Machtkonzentration. Da die meisten Nutzer nur passive Leser sind, und nur die wenigsten eigene Artikel verfassen, entscheidet eine kleine Elite über die Inhalte.

Der Soziologe Christian Stegbauer, der in seinem Buch „Wikipedia. Das Rätsel der Kooperation“ die internen Machtstrukturen analysiert hat, beobachtete, dass es meist sehr wenige oder sogar einzelne Personen sind, die an einem Artikel schreiben:

„Wikipedia-Artikel haben oft eine Art Besitzer, also einen Nutzer, der an der Erstellung und Optimierung des Artikels maßgeblich mitgewirkt hat. Diese Besitzer schauen ganz genau hin, wenn andere Benutzer etwas in ihrem Artikel verändern. Sehr oft passt ihnen die Änderung nicht, weswegen sie rückgängig gemacht wird“, sagte Stegbauer in einem Interview für die Main-Post.

Das Beispiel aus Kanada zeigt, dass Wikipedia an seine Grenzen stößt: Immer mehr Lehrer und Professoren wollen mit der Wikipedia zusammenarbeiten.

An vielen Schulen und Unis gehört es zum Alltag, Wikipedia als Methode der Wissensvermittlung einzusetzen. Indem Schüler und Studierende Wikipedia-Artikel verfassen, werten sie Informationen auf. Ein Nutzergruppe, deren Wert kaum zu überschätzen ist, läuft Gefahr verprellt zu werden.

Lehren aus der „Mega-Class Controversy“

Steve Joordens hat aus seinen Erfahrungen gelernt. In Zukunft wird er die Anzahl der teilnehmenden Studenten deutlich reduzieren. An der Idee des freien Wissens hält Joordens nach wie vor fest. Er ist überzeugt: „We are bringing new editors into Wikipedia.

„Of those students who did do the Wikipedia editing assignment, 32% continue to edit Wikipedia articles after the course was over. In fact, in total, 910 articles were edited for grades, and 530 were edited thereafter by students who became interested in editing Wikipedia articles.“

„I would love to continue to run these assignments because, from my perspective, they provide a great learning experience for students and they benefit Wikipedia.“

Fazit: Wissenschaftliche Erkenntnisse sind für die Wikipedia unerlässlich. Um Wissenschaftler, Studierende und Schüler für eine langfristige Mitarbeit zu gewinnen, müssen die Einstiegshürden weiter abgebaut werden.

Dazu müssen die Machtstrukturen innerhalb der Online-Enzyklopädie reformiert werden. Beim Umgang mit großen Gruppen fehlt vielen Autoren die nötige Erfahrung, oft auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Wichtig ist ein respektvoller Umgangston.

Unser Beispiel zeigt, dass die Beziehung zwischen Wissenschaft und Wikipedia nicht konfliktfrei ist. Die Brücke zu einer produktiveren Kollaboration ist gegenseitiges Kennenlernen und Verständnis.

Vor diesem Hintergrund ist es sehr bedauerlich,  dass die Wikimedia Foundation die bisherigen Bildungsprogramme, beispielsweise für Schulen und Universitäten, nicht mehr fortführt.

Zur Begründung hieß es knapp: „Keines der bisherigen Programme erwies sich als der durchschlagende Erfolg, den wir uns gewünscht hätten.“ So werden mühsam aufgebaute Strukturen auf Spiel gesetzt.

25 April
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