Aka, Rr2000 oder Kresspahl – anstelle des bürgerlichen Namens benutzen Editoren in der Wikipedia regelmäßig Pseudonyme. Das Recht auf Pseudonymität und Anonymität im Internet dient dem Schutz ihres Persönlichkeitsrechts. Niemand soll gezwungen sein, seinen wirklichen Namen zu nennen.
In § 13 Abs. 6 Telemediengesetz heißt es dazu:
„Der Diensteanbieter hat die Nutzung von Telemedien und ihre Bezahlung anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen, soweit dies technisch möglich und zumutbar ist. Der Nutzer ist über diese Möglichkeit zu informieren.„
Dennoch kommt es vor, dass Benutzer ihre Daten selbst preisgeben, oder ihre Klarnamen auf andere Weise bekannt werden.
Rechtlich problematisch sind diejenigen Fälle, in denen ein Benutzer außerhalb der Wikipedia selbst hinreichende Hinweise auf seine Identität gibt. Seltener ist das klassische „Outing“, bei dem der Klarname eines Wikipedia-Benutzers oder sonstige Hinweise auf seine Identität ohne seine ausdrückliche Erlaubnis preisgegeben werden.
Das „Outing“ eines Benutzers verstößt nicht nur gegen die Wikiquette. Wird das Persönlichkeitsrecht auf diese Weise verletzt, stehen dem Verletzten Unterlassungs- oder Schadenersansprüche zur Seite.
Lange war das „Recht auf Anonymität“ kein großes Thema in der Community. Doch plötzlich ist das „Outing“ (siehe: Posting of personal information) wieder in der Diskussion und hat geradezu einen lawinenartigen Aufschrei in der englichen Wikipedia ausgelöst.
Wikipediocracy, Cla68 und das Outing von Russavia
Die Geschichte begann mit einem Posting von Cla68 auf der Diskussionsseite von Sue Gardner (Posting wegen Wikipedia:Oversight nicht mehr sichtbar). Dort bat der Benutzer die Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation um eine Stellungnahme zu einem Beitrag auf Wikipediocracy, der sich kritsich mit dem Wirken eines Wikipedianers innerhalb und außerhalb der Wikipedia außeinandersetzt. In dem Artikel wird der Klarname des Benutzers veröffentlicht: Scott Bibby alias Russavia.
In dem Bericht werden hochbrisanten Details aus dem geschäftlichen Leben des Wikipedia-Admins aufgedeckt. So soll Russavia einen Artikel des Chanel-Ablegers „Coco Mademoiselle“ manipuliert haben, um die auf seinen Vater zugelassene Parfum-Vertriebsfirma zu promoten. Unter dem eBay-Account „russiansafetycards“ soll der Flugzeugliebhaber Kunden geprellt haben, indem er gekaufte Safety Instruction Cards nicht an die Käufer verschickte.
Bedenklich sind seine aufhetzerisch-nationalistischen Statements zur Internet-Meme „Polandball“ (Lemma gelöscht), für die der selbsternannte „Russophile“ für zwölf Monate gesperrt wurde (die Sperre ist inzwischen aufgehoben). Aber auch durch chauvinistische Äußerungen zum Thema sexuell eindeutige Bilder auf Wikimedia Commons fiel Russavia negativ auf.
Sperre, Oversight, Entsperrung, erneute Sperre
Die Verlinkung des Wikipediocracy-Beitrags auf der Diskussionsseite von Sue Gardner blieb nicht folgenlos: Zweiundzwanzig Stunden später wurde Cla68 durch den Benutzer: Beeblebrox wegen des vermeintlichen „Outings“ von Scott Bibby auf unbestimmte Zeit gesperrt.
Cla68 – seit Januar 2006 in der Wikipedia aktiv – war nicht bereit, diese drastische Maßnahme hinzunehmen. Er habe nur das bekannt gemacht, was im Internet oder auf öffentlichen WMF-Mailinglisten (z.B. hier und hier) ohnehin schon bekannt war. In seiner Erklärung verteidigt er sich entschieden:
„[Person] has publicly self-identified as [link to off-site page outing person|real name]. On a further note, Beeblebrox did not give me any detail on where the outing occurred. I had to look at [second off-site thread outing person] to find out why, because I knew that [person]’s real name ([real name]) was publicly acknowledged and couldn’t figure out what Beeblebrox was going on about. — User:Cla68“
Doch die Erklärung, in der Russavias Klarname erneut zu lesen war, wurde Cla68 abermals als „Outing“ ausgelegt. Ein weiterer Versuch, die Sperre rückgängig zu machen, endete schließlich damit, dass ihm der Zugang zur eigenen Diskussionsseite entzogen wurde – Cla68 wurde praktisch mundtot gemacht.
Von nun an war die Diskussion – über 100.000 Zeichen und noch kein Ende – nicht mehr aufzuhalten. Die Debatte rollte wie ein Schneeball durch die Wikipedia und machte auch vor Benutzer:Kevin nicht halt.
Der eigensinnige Wikipedianer wagte es, die Sperrung von Cla68 ohne Hinzuziehung des Schiedsgerichts aufzuheben, was zum Entzug seiner Admin-Rechte (permanent!) und zu einer weiteren, noch größeren Debatte führte.
Praktisch mundtot: Eine Beleidigung der Gerechtigkeit
War es gerecht, Cla68 auf unbestimmte Zeit zu sperren? Darf ein Benutzer von der Diskussion auf der eigenen Diskussionsseite ausgeschlossen werden? Für Benutzer:Kevin lautet die Antwort: nein. Auf Examiner.com erklärt er sein unübliches Verhalten so:
„One of the policies of Wikipedia is that blocking is only used to prevent disruptive edits, so once the threat of disruption was removed, the block became unnecessary. The other reason [for unblocking] is that [Cla68] was blocked from responding on his own talk page. All the while, discussion raged on that page about what should be done with him, of course he was unable to respond. I find this situation offends my sense of natural justice, and is one of the more obnoxious aspects of Wikipedia.“
Benutzer:Beeblebrox hingegen argumentiert mit der Privatsphäre des Betroffenen, ohne jedoch zu berücksichtigen, wie sich der Betroffene selbst auf Websiten außerhalb der Wikipedia verhalten hat. Dem internen Nachrichtenblatt der englischen Wikipedia-Gemeinschaft „Signpost“ sagte der Power-Admin (58.200 Edits, 2.234 Sperrungen):
„Whether the information is available on some other website is not the point – there has never been such an exception to the outing policy. Each of us has the right to choose not to use our real name on Wikipedia regardless of whether or not we tie [our] account name to our real name elsewhere.“
Im Spannungsverhältnis: Privatsphäre und selbstgewählte Öffentlichkeit
Doch wie soll im Einzelfall Gerechtigkeit hergestellt werden, wenn das Verhalten des Betroffenen völlig außer Acht bleibt? Cla68 dazu in der Signpost:
„Each individual Internet user is responsible for their own privacy. If someone is at least making an effort to be private, then Wikipedia should try to help them … however, the editor in question was not making much effort … to protect his privacy. In that case, it makes Wikipedia’s administration look very foolish to act like a serious violation of privacy had occurred.“
Doch die „WP:OUTING„-Policy ist streng. Ein Posting von persönlichen Informationen ist in der englischen Wikipedia generell untersagt. Der Schutz der Privatspäre steht im Vordergrund.
“Posting such information about another editor is an unjustifiable and uninvited invasion of privacy and may place that editor at risk of harm outside of their activities on Wikipedia. (…) Attempted outing is grounds for an immediate block.”
Wie das Beispiel von Wikipediocracy zeigt, kann eine solche Regelung jedoch zu sehr widersprüchlichen Ergebnissen führen:
„Suppose some clown named Pinto Colvig joins Wikipedia, creating the User name “Bozo Rules”. Now, suppose Pinto never publishes on Wikipedia his real name; on Wikipedia he always goes by Bozo Rules. Next, let’s say Pinto writes a letter to the editor of The New York Times, documenting his experiences as “Bozo Rules” on Wikipedia. The letter is “signed, Pinto Colvig”, and it gets published in the newspaper and is read by millions of readers. The next day, several Wikipedians who are fans of Pinto Colvig might be found chatting with each other on their Talk pages on Wikipedia — “Hey, did you know that User:Bozo Rules is actually Pinto Colvig? I read his letter to The New York Times!” Those editors would be in violation of Wikipedia’s policy, and they would be subject to an immediate block.“
Die Ironie der Geschichte: Jetzt weiß jeder, wer Russavia ist
Die „WP:OUTING“-Policy steht in der Kritik. Auf der Dikussionsseite wird die nahe liegende Frage aufgeworfen: „Is it ‚outing‘ if one’s Wikipedian account and real-name connection is publicly known?“
Die überzogenen Sanktionen gegen Benutzer:Cla68 und Benutzer:Kevin haben jedenfalls ihr Ziel verfehlt. Sie dienten dem Schutz der Anonymität von Russavia. Erreicht haben sie das genaue Gegenteil: Jetzt weiß jeder, wer Russavia ist!