Grenzfragen einer Enzyklopädie: Wikipedia über die Anschläge von Oslo und Utøya


Es sind nun zehn Tage vergangen, seit Anders Behring Breivik mit seinem Bombenattentat im Osloer Regierungsviertel und seinem Anschlag auf das Jugendlager auf der Insel Utøya 77 Menschen, zu einem ganz großen Teil Jugendliche, getötet hat. „Die Spur des Bösen“, titelt der Spiegel am heutigen Montag, „Europas rechte Populisten und der Kreuzzug des Anders Breivik“. Die Menschen in Norwegen und ganz Europa sind fassungslos angesichts dieses Verbrechens.

Es ist der vorvergangene Freitag, 22. Juli, 15.32 Uhr, als die norwegische Nachrichtenagentur NTB eine heftige Explosion im Regierungsviertel meldet. Gegen 16.30 Uhr erreichen diese Bilder auch das Feriencamp in Utøya, etwa 600 Jugendliche sind dort. Gegen 17 Uhr gelangt ein Mann in Polizeiuniform auf die Insel. Er erklärt, er komme zum Schutz der Jugendlichen, bevor er zu schießen beginnt, von Zelt zu Zelt läuft, immer wieder schießt. Um 17.27 Uhr erreicht der erste Notruf die Polizei. Erst etwa eine Stunde später kann die Polizei Breivik stellen.

Etwa um diese Zeit, ab 18.31 Uhr, findet sich in der deutschsprachigen Wikipedia ein erster kurzer Eintrag, „Bombenanschlag auf Oslo“. Er liest sich wie eine Agenturmeldung, im ersten Satz die Nachricht, dann kurze Abschnitte „Explosionen und Opferzahlen“, danach „Reaktionen“. Seit 22.59 Uhr an diesem Abend heißt der Artikel „Anschläge in Norwegen 2011“.  Um diese Zeit heißt es darin noch unter „Weitere Vorkommnisse“, es habe eine Schießerei im Jugendlager auf Utøya gegeben, nach Polizeiangaben seien neun oder zehn Personen erschossen worden. Eine verdächtige Person sei festgenommen worden.

Später werden es allein auf Utøya 69 Tote sein. Die verdächtige Person ist Anders Behring Breivik.

Der deutschsprachige Wikipedia-Artikel über die Anschläge ist seither von 169 Autoren 640 mal bearbeitet worden, 196.610 Besucher haben ihn gelesen. Dabei gab es 33 Reverts, eine Sperrung. Der Artikel über Anders Behring Breivik, angelegt in der Nacht nach den Anschlägen, am 23. Juli morgens um 05.03 Uhr von einem IP-Nutzer als, wie dieser selbst schrieb „hastige Übersetzung“ der englischen Wikipedia, wurde 423 mal von 141 Autoren bearbeitet. Auch in diesem gab es 32 Reverts und eine Sperrung. Die englischsprachigen Artikel, noch schneller und früher entstanden, noch wesentlich umfassender als die deutschen Lemmata, haben ähnlich unübersichtliche Versionsgeschichten.

Interessant sind nicht die einzelnen Änderungen und die immer wieder zu korrigierenden Fakten. Wikipedia ist hier nur ein Spiegel der Erkenntnisse der internationalen Medien. Uninteressant ist auch der Vandalismus, den Artikel über diese Ereignisse in Wikipedia naturgemäß anziehen. Sehr interessant dagegen sind die Grenzfragen, die sich stellen: Darf man einem Attentäter, dessen großes Ziel es war, die Weltöffentlichkeit mit seiner menschenfeindlichen Ideologie zu erreichen, eine weitere Bühne bieten? Ihm als Person und seinen Gedanken? Ist die Person des Täters nicht Teil der Tat – gehört also die Auseinandersetzung mit dem Attentäter in den Artikel „Anschläge in Norwegen 2011“? Provoziert eine zu detaillierte Auseinandersetzung mit der Person gar Nachahmer?

Diese Fragen diskutieren die Wikipedianer sehr intensiv. Sie ziehen Parallelen zum Amokläufer am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, dem bewusst kein Wikipedia-Artikel gewidmet wurde, der Tat als schrecklichem, zeithistorischem Ereignis aber sehr wohl. Auch vergleichen sie die Taten von Oslo mit dem Bombenanschlag von Oklahoma City 1995, der 168 Todesopfer forderte. Dem Täter Timothy McVeigh und Mittätern seien ebenfalls Wikipedia-Artikel gewidmet. Selbst der Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg wird genannt als Beleg für die Relevanz von Attentätern im allgemeinen, wenn er auch ideologisch in keiner Weise mit Breivik auf eine Stufe zu stellen sei. Andere Autoren halten dagegen. Ein IP-Nutzer schreibt, der Wikipedia-Artikel sei Teil der „Belohnung“, die der Täter sich vor der Tat erhofft habe. Der Wikipedianer „DrTrigon“ hält fest, er finde es „irgendwie schräg“, dass man durch Gewalttaten sofort die Relevanzkriterien der deutschen Wikipedia erfülle.

Der Autor „Bote des Friedens“ wiederum betont, in Übereinstimmung mit einem großen Teil der festgehaltenen Ansichten:

„Anders Behring Breivik scheint in nationalistischen Kreisen eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen, besonders natürlich auch in Zukunft. Als Funktionär in der Fortschrittspartei, Autor eines umfangreichen nationalistischen Pamphlets und schließlich Attentäter und Mörder von über 70 Menschen in den schwersten Anschlägen, die Norwegen seit 1945 erlebt hat, ist die Relevanz einfach gegeben. Von einem Denkmal kann bei diesem Artikel keine Rede sein: Er wird als Mörder dargestellt. Ich glaube im Übrigen, dass eine Aufklärung der Tatmotive und -hintergründe viel eher zur Bekämpfung von Gewalttaten beitragen kann als Verschweigen. Die Frage, die sich letzendlich stellt, ist, ob wir die Realität so darstellen wollen, wie sie ist oder wie wir sie gerne hätten.“

Drei Anträge, den Eintrag über Anders Behring Breivik zu löschen, sind inzwischen gescheitert. Insbesondere wird das Argument, die Persönlichkeitsrechte Breiviks würden verletzt, mit Recht abgelehnt, unterfüttert mit einer Analyse der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts zur Berichterstattung über Straftaten. Danach gilt:

„Wer den Rechtsfrieden bricht und durch diese Tat und ihre Folgen Mitmenschen angreift oder verletzt, muss sich nicht nur den hierfür verhängten strafrechtlichen Sanktionen beugen, sondern er muss auch dulden, dass das von ihm selbst erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird.“ – BGH AfP 2010, S. 162 (164)

Breivik selbst, so argumentiert auch der Wikipedia-Autor unter Heranziehung dieser Rechtsprechung, hat mit seiner Tat größtmögliche Öffentlichkeit erregen wollen. Es besteht ein überragendes öffentliches Interesse an den Anschlägen von Norwegen, auch an ihren politischen Hintergründen und der Person des Täters. Sein Name darf nach deutschem Recht genannt werden.

Juristisch lässt sich die Frage der enzyklopädischen Auseinandersetzung mit dem Attentäter also nicht lösen. Dies gilt noch dazu, weil die Frage auch nach Meinung vieler Diskutanten in Wikipedia rein akademischer Natur ist: Seit der Nacht nach den Attentaten ist der Name Anders Behring Breivik in aller Welt bekannt, aus seinem 1500-seitigen Pamphlet zitierte die Weltpresse. Wikipedia folgt den Nachrichten.

Dennoch stellen sich die Wikipedianer diesen schwierigen Fragen und zeigen einmal mehr eindrucksvoll das Innenleben der Arbeit an der weltgrößten Wissenssammlung. Dafür muss man freilich über den aggressiven Ton vieler Diskussionsbeiträge hinwegsehen, Vorwürfe und Behauptungen faschistoiden Denkens, mit denen sich manche Wikipedianer gegenseitig belegen, überlesen.

Interessant ist vor allem, für welche Art der Dokumentation der Ereignisse sich die deutschsprachigen Wikipedia-Autoren entschieden haben. So findet sich kein Bild Breiviks in der deutschen Wikipedia, weder im Personen- noch im Ereignisartikel. Teilweise wird die Abbildung Breiviks abgelehnt, weil Wikipedia keine Rechte an den Bildern besitze, die Breivik selbst durch sein Manifest und sein Facebook-Profil veröffentlicht hat, teilweise aus Furcht vor Ikonisierung und vor Nachahmern. Allerdings verlinkt der Artikel auf die Wikimedia Commons-Seite, die sieben Bilder Breiviks zeigt, allesamt von ihm selbst verbreitete, ihn in verschiedenen Posen in Uniformen und Kampfanzügen zeigende Bildnisse.

Die Editoren der englischsprachigen Wikipedia sehen dies ganz anders, ordnen die Bilder als zeitgeschichtliche Dokumente ein und schließen daraus, dass Breivik selbst ihre Verbreitung veranlasst hat, die freie Verwendbarkeit. So ist sowohl ein von Breivik selbst gefertigtes Porträtfoto, als auch das Bild, das den Attentäter martialisch mit einem Sturmgewehr und in einem Taucheranzug zeigt, abgebildet. Zu beiden Bildern gibt es ausführliche Löschdiskussionen. Bisher jedoch bleiben sie Bestandteil des Artikels.

So zeigen sich in der Dokumentation der Anschläge von Norwegen auch Unterschiede der deutsch- und der englischsprachigen Wikipedia. Die deutschsprachigen Editoren diskutieren länger, kontroverser und wesentlich ruppiger. Der Artikel jedoch ist kürzer und vorsichtiger geschrieben und gestaltet. Die englischsprachigen Autoren debattieren strukturierter, an den Details des Artikels orientiert, und schreiben mutiger und pragmatischer. Die Artikel über die Anschläge von Oslo und Utøya sind damit auch Zeugnisse verschiedener Kulturen im Umgang mit schwersten Verbrechen.

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4 Antworten zu Grenzfragen einer Enzyklopädie: Wikipedia über die Anschläge von Oslo und Utøya

  1. Rupert sagt:

    Es ist kein Tauchanzug, sondern ein Kompressionsanzug. Die Marke SKINS steht für diese Anzüge.

  2. Christian sagt:

    Ja, die deutsche und die englische Wikipedia besitzen interessante Unterschiede, sowohl strukturell her als auch bezüglich der Mentalitäten.

  3. Christian sagt:

    Meiner Erfahrung nach ist die englische Wikipedia:
    – weniger reguliert und kontrolliert
    – Quantität über Qualität hinsichtlich der Artikel
    – internationaler
    – sehr geringe Autoren/Artikel Dichte -> wenige Autoren haben viel Macht

    Die wenig wirklich befolgten Regeln sind ein Witz und leicht zu brechen.
    Allein die antirussische und antideutsche EEML Gruppe bewies auf spektakuläre Art,
    wie einfach ideologische Ansichten und politische Ziele verfolgt werden können, wenn ein paar Editoren heimlich zusammenarbeiten.
    Die Gruppe wurde erst nach einer Wikileaks Veröffentlichung 2009 kurzzeitig gebremst,
    aber ist schon längst wieder in alter Form zurück, ohne dass man zwischenzeitlich auch nur einen Funken schlauer geworden zu sein scheint.

    Wikipedia lässt sich einfach zu leicht ausbeuten und der Leser merkt das meistens nicht, weil er durch andere Aritkel Vertrauen gewonnen hat!

  4. anonym sagt:

    Gut recherchiert und differenziert beschrieben! Bleibt hinzuzufügen: Wikipedia ist eine Enyklopädie. Unter einer Enzyklopädie versteht man eine strukturierte, möglichst umfassende Darstellung menschlichen Wissens in einer für den Alltagsgebrauch hinreichenden Ausführlichkeit. Dem steht die Breivik-Hysterie entgegen. Es gibt derzeit (noch weniger kurz nach den Attentaten) kaum hinreichende Erkenntnisse, weniger noch solche, die veröffentlicht wurden. Somit stellt Wikipedia in Bezug auf Breivik höchstens eine Presseschau dar. Es werden lediglich Meldungen von Medien wiedergegeben. Dabei handelt es sich jedoch nicht um gesicherte Fakten. die Ermittlungen sind noch in einem frühen Stadium; eine juristische Aufarbeitung ist noch nicht geschehen. All die Mutmaßungen gehören nicht in eine Enyklopädie, jedenfalls nicht in dem beschriebenen Umfang. Mit der Breivik-Schreiberei wird Wikipedia einfach missbraucht.

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