Wer ein echtes Skandalstück schreiben will, noch dazu in der renommierten Zeit, der muss erst für die richtige Fallhöhe sorgen.
„Administratoren … haben nicht nur die Macht des Arguments auf ihrer Seite, sondern auch die Macht des Systems … Was aber, wenn einer dieser Administratoren seine Macht missbraucht? … Dann ist der Ruf eines Mediums in Gefahr, das sich anschickt, ein digitales Weltkulturerbe zu werden. Und dann muss sich Achim Raschka erklären. Doch Raschka will nicht wirklich.“
Ein besonderer Autor, ein „Hüter der virtuellen Wahrheit“, sei Raschka gewesen. Doch sich zum Projekt „Nachwachsende Rohstoffe in der Wikipedia“, das mit 234.820 Euro aus Mitteln des Bundesverbraucherschutzministeriums gefördert worden sein und über 500 Wikipedia-Artikel neu geschaffen oder überarbeitet haben soll, zu äußern – dazu habe er keine Lust. Dies jedenfalls habe er die Zeit wissen lassen.
So schrieb es ein junger freier Autor auf einer ganzen Seite in der Zeit vom 1. Dezember 2011. Teile der deutschsprachigen Wikipedia-Community kochen. Denn Achim Raschka ist ein angesehener, langjähriger Wikipedianer: engagiert in diversen Projekten des Wikimedia-Vereins, ehemaliges Vorstandsmitglied, Qualitäts-Beauftragter, mehrmalig gewählter Administrator in der deutschsprachigen Wikipedia. Und ehemaliger Leiter des Projekts „Nachwachsende Rohstoffe in der Wikipedia“, kurz Nawaro.
Achim Raschka erklärte sich durchaus: In seinem eigenen Blog veröffentlichte er schon am 22. Juni seine Antworten auf die Anfragen des Journalisten, und schrieb erneut hierzu am 25. Juni, am 29. Juni, am 14. Juli und am 21. Oktober. Auch der Wikimedia-Verein schreibt in seiner ausführlichen Stellungnahme nach Erscheinen des Zeit-Artikels, er habe vorher zahlreiche Anfragen beantwortet und Links zu Dokumenten und Berichten zur Verfügung gestellt. In der Zeit-Geschichte heißt es jedoch: „Wikimedia nahm zu diesen Fragen nach mehrfacher Aufforderung nicht Stellung.“
Dazu ist das 2007 gestartete Projekt „Nachwachsende Rohstoffe“ seit mehr als einem Jahr abgeschlossen. Die mit einem Stipendium der Otto Brenner Stiftung geförderte Recherche zog sich offenbar hin oder harrte längere Zeit der Veröffentlichung. Doch die Zeit-Geschichte aufgrund der offenen und umfassenden Dokumentation und Diskussion aus der Wikipedia-Community einfach als übertrieben oder mittelmäßig recherchiert abzutun, wäre falsch. Denn das Nawaro-Projekt wirft wichtige Fragen auf:
- Was darf, was kann, was muss die Wikipedia tun, um schwach entwickelte Themenbereiche auszubauen?
- Dürfen Experten dafür bezahlt werden oder Aufwandsentschädigungen erhalten? Sollen Wikipedia-Themenbereiche mit öffentlichen Mitteln, hier mit jenen 234.820 Euro des Verbraucherschutzministeriums, gefördert werden?
- Darf es überhaupt „bezahlte Inhalte“ in Wikipedia geben, einer Enzyklopädie, die doch auf der freiwilligen Mitarbeit tausender ehrenamtlich engagierter Autoren beruht?
- Wie frei erfolgt die Auswahl, das Schreiben und Bearbeiten der Inhalte?
Die Stellungnahme von Wikimedia Deutschland rechtfertigt das Nawaro-Projekt ausführlich. Über 500 Artikel mit relevanten Informationen zu Ackerfrüchten wie Raps, Mais und Rüben, aber auch Stichworten aus den Bereichen Holzwirtschaft, Bioenergie und Papier, seien neu geschaffen oder überarbeitet worden. Der Zeit-Artikel sei keine Enthüllungsgeschichte, sondern enthalte seit Jahren in Tätigkeitsberichten und Blog-Beiträgen öffentlich kommunizierte Informationen. Die „bezahlten Mitarbeiter“ seien wissenschaftliche Mitarbeiter gewesen, die „interessierten Einrichtungen“ die Universitäten, an denen diese tätig waren.
PR-Einflüsse weist Wikimedia zurück. Die Verwendung von Bildmaterial von Unternehmen wie dem Kunststoffhersteller FKuR (etwa durch dieses Bild) sei gerade gewollt: „Wir wollen Inhalte befreien, die Mitarbeit an Wikipedia steigern und Informationen frei zur Verfügung stellen.“ Die Nutzung des Bildmaterials – laut Zeit Fotos von FKuR-Kugelschreibern, Einwegbesteck und Plastiktüten aus Materialien, deren Herstellung als sehr CO2-intensiv kritisiert wird – sei unabhängig erfolgt.
Auch sieht Wikimedia Deutschland die Unabhängigkeit der Inhalte trotz zahlreicher Schulungen, Vorträge und Seminare, die im Rahmen oder im Umfeld des Nawaro-Projekts stattfanden, gewahrt. „Wikipedia als PR-Instrument“. So hieß laut Zeit und der Wikimedia-Stellungnahme ein Vortrag Achim Raschkas in Bonn. Zwei Mitarbeiter des Verbands der Holzpellet-Industrie sollen daran teilgenommen und gleich darauf einen Eintrag über ihren Verband geschrieben haben. Dagegen heißt es in der Wikimedia-Stellungnahme: Der Referent habe „gerade davor gewarnt, Werbetexte als Inhalte einzustellen“. Mitmachen könne schließlich jeder, auch Pressestellen, nur sollten sie sich als solche zu erkennen geben und die Grundprinzipien der Wikipedia einhalten. „Dass in unser Projekt – je nach individueller Prägung und gesellschaftlicher Stellung – Interessen der unterschiedlichsten Art einfließen, gehört zu dem Grundwissen, das unser Regelwerk bestimmt, indem es uns individuell zur Einnahme eines möglichst neutralen Standpunkts anhält und als Gemeinschaftswerk im Ganzen darauf verpflichtet“, schreibt dazu „Barnos“ im Wikipedia-Kurier.
Was bleibt also nach dieser Geschichte? Bisher ist sie einmalig, eine ähnliche öffentlich geförderte Großaktion zum Auf- und Ausbau eines Themenbereichs gab es bisher in der deutschsprachigen Wikipedia nicht. Interessanter als ihre generelle Skandalisierung wäre die Auseinandersetzung mit der Qualität der dort entstandenen Inhalte. Die groß angelegte Recherche, die die Zeit veröffentlichte, förderte keine inhaltlichen Mängel oder tendenziöse Informationsauswahl zutage.
Wikipedia ist so gut wie ihr einzelner Inhalt, wie das in einem einzigen Artikel beschriebene und vom interessierten Nutzer gesuchte Faktum. Der Wikimedia-Verein hat nichts anderes gemacht als jedes Drittmittel-akquirierende Institut einer deutschen Hochschule. Er ist eine Kooperation eingegangen.
„Die freie Enzyklopädie“ macht sich damit angreifbar. Aber kann sie anders?
„Wikipedia oder Wahrheit“ war der Artikel überschrieben. So leicht kann man es sich nicht machen. Die „virtuelle Wahrheit“ gibt es nicht – so wenig, wie die eine „reale Wahrheit“. Noch nicht einmal in der Zeit.
Der zitierte Artikel aus der Zeit ist jetzt online unter: http://www.otto-brenner-preis.de/fileadmin/user_data/preis/2010/Bilder/DZ_49_11_035.pdf.