Wikipedia-Kritiker Jaron Lanier mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt

Jaron Lanier ist einer der renommiertesten Vordenker des Internets. Er gilt als ein erbitterter Kritiker von Wikipedia, die er einst als totalitär und undemokratisch beschrieb. In diesem Jahr wird der „Netz-Philosoph“ mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Wer ist der Mann mit den charakteristischen Dreadlocks? Was kritisiert er an der sogenannten Schwarmintelligenz, als deren Hauptvertreter er die Mitmach-Enzyklopädie Wikipedia ausgemacht hat? Warum wächst die Kritik an der Preisverleihung?

„Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahr 2014 an Jaron Lanier und ehrt mit dem amerikanischen Informatiker, Musiker und Schriftsteller einen Pionier der digitalen Welt, der erkannt hat, welche Risiken diese für die freie Lebensgestaltung eines jeden Menschen birgt.“ (Auszug aus der Begründung der Jury)

Jaron Lanier, Mai 2006. Foto: Luca Vanzella, https://www.flickr.com/photos/vanz/, CC BY 2.0, Nutzungsbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Das Individuum ist wichtiger als die Masse

Mit seinem inzwischen berühmt gewordenen Interview mit dem Spiegel von 2006 hat sich Lanier nicht nur Freunde gemacht. Darin verglich er das Engagement von tausenden freiwilligen Autoren der Wikipedia mit Graffiti-Schmierern.

„In der Wikipedia-Welt bestimmen jene die Wahrheit, die am stärksten besessen sind. Dahinter steckt der Narzissmus all dieser kleinen Jungs, die der Welt ihren Stempel aufdrücken wollen, ihre Initialen an die Mauer sprayen, aber gleichzeitig zu feige sind, ihr Gesicht zu zeigen.“

2010 setzte Lanier noch einen drauf. In seinem Essay „Digitaler Maoismus“ verglich er kollektive Bewegungen wie Wikipedia mit roten und braunen totalitären Ideologien. Der Online-Kollektivismus sei die Wiederauferstehung der Idee, dass das Kollektiv über eine allwissende Weisheit verfügt. Für Lanier endet das in einem digitalen Maoismus.

„Schnell wird der Einzelne Opfer des Mobs; die Gefahr von Wiki-Lynchjustiz halte ich für sehr real.“ (Spiegel-Interview vom 13.11.2006)

Woher kommt diese tiefe Skepsis gegenüber der Schwarmintelligenz, die er in Gefahr sieht, als Digitalmob zu enden? „Im Kollektiv, glaubt er, sei die Strategie, etwas über die reine Zahlenakrobatik hinaus zu verbessern, zum Scheitern verurteilt. Wahre Kreativität traut er nur dem Individuum als Autor, als Schöpfer zu.„, resümiert FAZ-Korrespondent Jordan Mejias. Gerrit Bartels nennt ihn im Tagesspiegel deshalb einen „digitalen Humanisten“, der „trotz digitaler Revolution den Menschen nicht vergessen“ hat.

Was Lanier antreibt ist die Bewahrung humaner Werte im Technologiezeitalter. In seinen Schriften appelliert er an das kritische Bewusstsein des Individuums. Ohne individuelle Kontrolle seien kollektive Systeme in hohem Maße unzuverlässig. Die unabhängige Presse, die er durch das Internet bedroht sieht, nennt er als Beispiel dafür, wie Einzelne durch Qualitätskontrollen die Intelligenz des Kollektivs verbessern können.

„Seitdem die meisten Suchmaschinen eher zur wikifizierten Version als zum Original führen, hat das Web einiges an Charakter verloren.“ (Jaron Lanier in „Digitaler Maoismus„)

Lanier ist überzeugt, dass es die meisten technischen oder wissenschaftlichen Informationen, die man in der Wikipedia findet, schon im Netz gab, bevor Wikipedia erfunden wurde. Der Schwarm fasse lediglich Bestehendes zusammen und mache daraus einen charakterlosen Brei.

Kritik an der Verleihung wächst

Während Teile der Medien (FAZ, Die Welt, Tagesspiegel) von einer längst überfälligen Sensation sprechen, wächst anderswo die Kritik an der Preisverleihung. Anlässlich des Friedenspreises werden Laniers Thesen neu auf- und angegriffen.

Falk Steiner machte im Deutschlandfunk seiner Enttäuschung Luft und bezeichnet die Entscheidung der Jury „für einen Krawallmacher, einen Schreihals“ als einen erstaunlichen Fehler.

„Laniers Kritik ist oft so banal, dass sie in Pixibüchern bestens aufgehoben wäre.“

Weniger bissig drückt es Thierry Chervel im Perlentaucher-Blog aus, der sich als Preisträger Autoren wie Yochai Benkler, Lewis Hyde, Richard Stallman oder Lawrence Lessig gewünscht hätte. Doch statt das Offene und das Verbindende am Netz zu feiern, zeichne der Börsenverein einen Autoren aus, der die „dunklen Seiten des Netzes“ betont. Ähnlich sieht es Jürgen Geuter auf SPON, der Lanier als einen „Internetverächter“ bezeichnet, „der die Demokratisierung des Mediums verhöhnt„.

„Er ist aber letztlich mehr Sachbuch-Bestsellerautor als medienkritischer Intellektueller.“ (Kommentar von Florian Cramer im Perlentaucher-Blog)

Wikipedia schlägt zurück

In der Wikipedia-Community stößt Laniers „provokativer Pessimismus“ – Dank an „Harro“ für die Formulierung! – auf reflexartige Ablehnung. Die Diskussion zum Kurier-Artikel „Risikofaktor Schwarmintelligenz„, der sich mit dem Preisträger befasst, bleibt in weiten Teilen oberflächlich.

„Die oberflächliche Kritik, auch von renommierter Seite, ohne tieferes Verständnis ist eher peinlich. („Harro“ in der Kurier-Diskussion)

Andere disqualifizieren sich mit ihren Äußerungen auf ganzer Linie selbst. Jens Best, Mitglied des Präsidiums von Wikimedia Deutschland, spricht von einer „Schändung des Friedenspreises„, von „Hetze„und zeigt sich „schockiert über diesen offensichtlichen Missbrauch und die damit einhergehende Banalisierung des Friedenspreises„. Man müsse annehmen, schreibt Best weiter, dass der Stiftungsrat des Börsenvereins diese Entscheidung gefällt hat, um „willentlich unnötigen Streit zu säen, der ihren reaktionären Haltungen in die Hände spielt„.

Best, der betont, seine Privatmeinung geäußert zu haben, argumentiert, dass die reaktionären Kräfte des Börsenvereins und deren Umfeld den Friedenspreis für ihre Kampagne gegen das ihrer Ansicht nach „böse“ Internet instrumentalisiert hätten. Einfach ausgedrückt: Der Buchhandel habe ein wirtschaftliches Interesse daran, gegen den Digitalisierer Google und den Erzrivalen Amazon zu schießen, und wählt deshalb einen Preisträger aus, der das seit Jahren erfolgreich tut.

Darf man mal darauf hinweisen, dass der Preisträger nicht vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Gestalt seiner Gremien und Mitgliedsunternehmen benannt wird, sondern vom Stiftungsrat – auch mit Mitgliedern wie Ulrich KhuonPeter von MattKarl Schlögel oder Stephan Detjen – vergeben wird, oder stört das die gemütliche Erklärungssuche einiger Benutzer?“ (Gert Lauken in der Kurier-Diskussion)

Hat die FAZ-Autorin Felicitas von Lovenberg ihren Wunschkandidaten gegen alle anderen acht Mitglieder des Stiftungsrates durchgedrückt? Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Best jedenfalls glaubt an diese Verschwörungstheorie.

Das Feuilleton und der Stiftungsrat des Friedenspreises sind nicht ganz unschuldig an den negativen Reaktionen. Sie haben einen Preisträger aufgebaut, der immer wieder als „Internetpionier“ bezeichnet wird. Florian Cramer hat im Merkur ausführlich beschrieben, dass Lanier aber zu keinem Zeitpunkt an der Entwicklung des Internets beteiligt gewesen ist. Will man ihm gerecht werden, sollte man von einem „Computerpionier“ sprechen, der (wie Wikipedia schreibt) „als Erster internetbasierte Computer-Netzwerke“ vorgeschlagen hat. Er ist also eher eine Art Wegbereiter des heutigen Netzes. Oder wie die WAZ schreibt: ein „Geburtshelfer des Internets“. Das ändert aber nichts daran, dass er wichtige Kritikpunkte an der Internet-Gesellschaft aufgreift und mit Sätzen wie „You are not a gadget“ zielsicher auf den Punkt bringt.

Preis als politischer Seismograph

Mit dem Friedenspreis an Lanier hat der Börsenverein in diesem Jahr Neuland betreten. Die Auszeichnung geht erstmals an einen Wissenschaftler und Autor, der sich kritisch mit dem Internet und der Digitalen Revolution auseinandersetzt. Eine zeitgemäße Entscheidung: Denn umso mehr die Digitalisierung des Lebens voranschreitet, desto wichtiger wird die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema.

„Es ist mittlerweile ganz wichtig, dass die Menschen in unserer Gesellschaft erkennen, dass das Internet nicht allein ein Medium der Freiheit ist, sondern dass es auch ein Macht- und Überwachungs-Instrument ist und es jeden einzelnen von uns betrifft. Es ist ganz wichtig, die Menschen aufzurütteln. Das tut Jaron Lavier in für uns vorbildlicher Weise.“ (Felicitas von Lovenberg im DW-Interview)

Seine These, dass die Schwarmintelligenz, die kostenlose OpenSource-Software, aber auch Wikipedia alles wertlos macht und damit die Mittelschicht der Gesellschaft vernichtet, ist in der Netzgemeinschaft hoch umstritten. Doch die Fragen, die dahinter stehen, sind von enormer Bedeutung für uns alle. „Wem gehört die Zukunft?“ fragt sein aktuelles Buch. Denen mit den schnellsten Computern? Wie verändert Big Data unser Leben? Wird es uns wie die Sirenen aus der griechischen Mythologie ins Verderben locken?

Für viele ist der Friedenspreis an Jaron Lanier, der ihm am 12. Oktober in der Frankfurter Paulskirche verliehen wird, eine logische Konsequenz der Snowden-Enthüllungen und des NSA-Skandals. Er ist nicht nur ein weltweit beachteter Preis – er versteht sich selbst als ein Seismograph am Puls der Zeit.

„Im 21. Jahrhundert gilt es, über Fragen unserer persönlichen, kommerziellen und zwischenstaatlichen Datensicherheit nachzudenken. Darin liegt das Wegweisende dieses Preises für Jaron Lanier.“ (Marc Reichwein in Die Welt)

Der Stiftungsrat wollte mit dem diesjährigen Preisträger ein Zeichen setzen gegen Überwachung im Netz, die Sammelwut des US-Geheimdienstes NSA und Big Data. Diese Themen bewegen uns alle, begründet der Vorsitzende des Stiftungsrats Heinrich Riethmüller die Entscheidung des Gremiums.

„Es ist uns schon ein Anliegen, dass Preisträger und Aktualität möglichst zusammen finden. Und dass für jeden einsichtig wird, warum wir eine Entscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt getroffen haben. Wenn man bedenkt, was seither mit der Ukraine und Russland passiert ist, war die Entscheidung für Swetlana Alexijewitsch fast schon eine visionäre Wahl – leider, muss man sagen.“ (Felicitas von Lovenberg im DW-Interview)

Das Internet ist nicht heilig. Es hat Fehler, die behoben werden müssen. Um diese zu durchschauen, braucht es Aufklärer wie Lanier, die trotz aller Euphorie immer wieder den Finger in die Wunde legen.

Wir müssen aufpassen, dass unsere Euphorie, alles tun zu können, was wir wollen, nicht einen globalen Unfall nach sich zieht.“ (Jaron Lanier im Zeit-Interview).

Es gibt heute kein „Ich-mache-da-nicht-mit“. Die Technologien schreiten unaufhaltsam voran. „Wer glaubt, sich entziehen zu können, unterschätzt, dass der Nicht-Gebrauch der Technologie ihn schon bald vom gesellschaftlichen Leben ausschließen wird.„, schrieb der kürzlich verstorbene Frank Schirrmacher. Es braucht jemanden, der uns wach rüttelt und aufklärt. Und genau das tut Jaron Lanier.

 

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