Oligarchie in Wikipedia: Rassehund springt eher über Wikipedias Relevanzhürde als Parteien

Gedanken über Wikipedia in einem Superwahljahr

Die Wikipedia hat eine Regel dafür, wann Hunderassen, Hundeformen und Hybridhunde enzyklopädisch relevant sind, also einen eigenen Artikel (Lemma) bekommen können. Diese Hürde kann ein Hund (bzw. seine Rasse) relativ leicht überspringen: es reicht, wenn die Rasse von einem der drei großen Verbände anerkannt wurde.

Politischen Parteien dagegen werden erst relevant, wenn sie an einer Wahl „erfolgreich“ teilgenommen haben. Erfolgreich bedeutet dabei nicht (analog zu Hunderassen), dass der Wahlleiter sie zur Wahl zugelassen hätte oder dass sie am Wahltag auf den Wahlzetteln standen. Nein, sie müssen (beispielsweise mit einem bestimmten Quorum einer Prozent- oder Stimmenzahl) erfolgreich gewählt worden sein.

Hunderassen dürfen also schon dann in die Wikipedia, wenn zur offiziellen Aufnahme ihrer Rasse von einem dieser Verbände ein laufendes Verfahren [zur Zulassung] eröffnet wurde.

Neue Parteien müssen dagegen in Wikipedia eine höhere Hürde überspringen. Für sie reicht nicht die Zulassung zur Wahl, sie werden erst am Wahlabend nach Schließung der Wahllokale relevant. Dies führt dazu, dass sich das Wahlvolk in der Wikipedia nicht objektiv über neue Parteien informieren kann.

Etablierte Parteien werden also von Wikipedia bevorzugt. So kann eine Partei mit weniger als 1.000 Stimmen nach einer Wahl in einer Gebietskörperschaft mit mehr als 100.000 Einwohnern ein Mandant erringen und damit für Wikipedia relevant sein. Auf der anderen Seite reichen 4.000 (bundesweit) eingereichte Unterschriften – die Voraussetzung der förmlichen Zulassung für die Europawahl sind – nicht aus, um relevant zu sein!

Wahlzulassung

Das laufende Verfahren zur Aufnahme neuer Parteien in den politischen Betrieb nennt man bekanntlich Wahl. Ab etwa 4 Wochen vor der Wahl gibt der Wahlleiter bekannt, welche Parteien zugelassen sind, also auf den Stimmzettel dürfen. Von diesen steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass diese auch noch am Wahltag auf dem Wahlzettel stehen werden, also erfolgreich an der Wahl teilnehmen werden. Wenn eine Partei in der Zeit zwischen Wahlzulassung und Wahltag noch ausgeschlossen würde, wäre dies ein solch bedeutsames einmaliges Ereignis, dass alleine dieses eine Berichterstattung und damit ein eigenes Lemma erfordern würde.

Gründe

Der in der Wikipedia angegebene Hauptgrund dafür, warum neue Parteien nicht schon vor Schließung der Wahlurne relevant sein sollen, ist – nur wenig verbrämt – die Oligarchie. In der Wikipedia tummeln sich – offen und versteckt – Mitglieder der etablierten Parteien und die wachen darüber, dass die Konkurrenz möglichst spät in die Wikipedia kommt und die Bürger damit keine Möglichkeit haben, sich unabhängig über sie zu informieren.

Es heißt in Wikipedia, diese wäre keine Werbeplattform. Dabei wird aber ausgeblendet, dass die Wikipedia für die bereits in ihr etablierten Parteien mit eigenen Seiten (Lemmata) wirbt (soweit man die von Wikipedia angestrebte neutrale Berichterstattung überhaupt als Werbung ansehen will). Es geht also darum, dass nur die Etablierten beworben werden sollen – typisch Oligarchie

Aber es gäbe nach Wikipediaregeln noch einen Ausweg: Unbedeutende, neue Splittergruppen sollen bei ihrer Mutterpartei beschrieben werden. Betrachten wir dazu zwei Splittergruppen der letzten Zeit: Von/in der CDU entwickelte sich die Aktion Linkstrend stoppen. Hier musste schwierig argumentiert werden, ehe die Splittergruppe Erwähnung fand. Im Artikel der CDU wurde dennoch immerhin eine Gruppe, die noch nicht einmal eine eigene Partei war, geduldet.

Ganz anders sah es aus bei der AUF – Partei für Arbeit, Umwelt und Familie. Diese Partei war – ironischerweise – aus der Bemühung entstanden, aus den christlichen Kleinparteien Deutsche Zentrumspartei, Ökologisch-Demokratische Partei und Partei Bibeltreuer Christen eine neue Gesamtpartei zu gründen. Stattdessen entstand aber 2008 eine vierte christliche Kleinpartei, die im Frühjar 2009 erstmals bundesweit zur Wahl antrat. AUF wäre nun als Splittergruppe bei jeder oder einer der drei Mutterparteien zu beschreiben gewesen.

  • In dem von Wikipedia als lesenswert ausgezeichneten Artikel zur Ökologisch-Demokratischen Partei wird die Abspaltung von Mitgliedern zu AUF nicht einmal erwähnt.
  • Bei der deutschen Zentrumspartei wird die AUF nicht erwähnt. Interessant ist aber, dass mindestens zwei bekennende Mitglieder der Grünen [1], [2] (einer davon ist inzwischen Administrator) und ein (sich nicht öffentlich dazu bekennendes Mitglied) der PBC an diesem Artikel einer Konkurrenzpartei mitschreiben. Es hat ein Geschmäckle, wenn Parteigänger bei Themen, bei denen sie offensichtlich befangen sind, mitschreiben.
  • Bei der PBC wird die AUF inzwischen zwei Mal erwähnt. Da die AUF von einem ehemaligen PBC-Vorsitzenden gegründet wurde, wurde sie hier schon im Februar 2008 in einem Unterabschnitt gemäß der obigen Richtlinie erstmals erwähnt. In einer Salamitaktik wurde an der Diskussion vorbei erst die Überschrift über den eigenen Abschnitt entfernt, dann der ganze Abschnitt gelöscht und zwei Monate später wieder eingefügt, nur um gleich wieder gelöscht zu werden. Schließlich blieb es, im Kompromiss mit einem PBC-Mitglied, bei der gegenwärtigen Nennung.

Da es offenkundig problematisch ist, neue Parteien bei den Mutterparteien angemessen darzustellen, ist mehrmals versucht worden, ein eigenes Lemma zu erstellen. Dieses ist wiederholt gelöscht worden [1], [2]. Zu guter Letzt wurde es dann eine Woche vor der EU-Wahl 2009 von einem Administrator wiederhergestellt. Im Vorfeld der EU-Wahl 2009 ging es mehreren neuen Parteien ähnlich:

Allgemeine Relevanzkriterien

Die Allgemeinen Regeln für Parteien wurden in diesem Punkt mehrmals diskutiert, die angesprochen Widersprüche aber nie beseitigt. Seit März 2009 erfolgte keine Änderung mehr. Zum Thema wurde ein Meinungsbild vorbereitet, dies wurde aber nicht zur Abstimmung geführt, es ist seit Juni 2009 eingeschlafen. Meinungsbilder sind wikipedia-interne Elemente der direkten Demokratie, die einzige Möglichkeit allgemein (halbwegs) verbindliche Regeln zu schaffen. Bei Meinungsbildern ist es wie in der echten Demokratie: Die Wahlbeteiligung ist oft nicht besonders hoch. Ca. 200 bis 300 Stimmen werden meistens abgegeben.

Geschichte der Relevanzkriterien für Parteien und Wählerinitiativen

  • Schon die erste Wortmeldung von Rax zum Thema am 1. August 2006 brachte das bis heute bestehende Problem und seine Lösungsmöglichkeit auf den Punkt:  Die wesentlichen Argumente dabei waren (formal), dass die Inkonsistenz der Löschentscheidungen in diesem Bereich reduziert werden sollte und (inhaltlich), dass auch Kleinparteien qua Verfassungsauftrag an der politischen Willensbildung mitwirken, spätestens seit sie von den Wahlleitern anerkannt sind und auf Wahlzetteln auftauchen, mithin ein Informationsbedürfnis angenommen werden kann. Wichtigstes Gegenargument war immer, dass Wikipedia keine Werbung für nicht bekannte Parteien machen sollte, diese also nicht erst durch den WP-Eintrag relevant werden sollten. Herauskristallisiert hat sich, dass Kleinparteien dann als relevant gelten sollten, wenn sie an Bundes- oder Landtagswahlen teilgenommen haben, ihre Unterlagen also vom jeweils zuständigen Wahlausschuss geprüft und angenommen wurden; das Wörtchen „erfolgreich“ wäre also zu streichen. Rax  02:16, 1. Aug 2006 (CEST)
  • Damals reichte in den meisten Fällen die Zulassung durch den Wahlleiter, aber nicht für eine Europawahl (obwohl die ein gleich hohes, bzw. höheres Quorum an Unterstützungsstimmen braucht als bei einer Bundestagswahl)
  • Ab 2008 wurden auch Wählergruppen bei Gewinn eines Mandats aufgenommen.
  • 2009 wurde angeregt, auch für Europawahlen die Zulassung ausreichen zu lassen, darauf wurde klargestellt, dass nur der Wahlerfolg zählt.
  • Im April 2009 wurde die Frage um die Zulassung wieder aufgenommen, aber kein Konsens erziehlt.
  • Nachdem die  Gaddafi Partei Österreich an den Landtagswahlen in Österreich teilnahm, aber nur in einem Wahlkreis, kam es im Oktober 2009 zu einer sehr konträren Löschdiskussion um die Interpretation der Relevanzkriterien, die mit Löschung und negativer Löschprüfung endete. Die parallele Diskussion um die Relevanzkriterien selbst führte zu keiner Änderung.
  • Im April 2010 gab das Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit erneut Anlaß zur Überprüfung der Relevanzkriterien. Die Relevanzdiskussion wurde vorzeitig beendet, nachdem der zuständige Administrator die Regeln tolerant ausgelegt (sprich  gebeugt) und den Artikel behalten hatte.
  • Im August 2010 waren die Nationale Volkspartei und die Arbeitsgemeinschaft für demokratische Politik von Löschung bedroht [1], [2]. Es ergab sich die Frage, ob auch Verfassungsschutzberichte ander Länder Relevanz begründen können. In diesem Zusammenhang äußerte sich Minderbinder deutlich, warum neue Parteien nicht in der Wikipedia stehen sollen:  Am Ende ist das Relevanzkriterium ganz pragmatisch: Es greift praktisch nur bei neuen Splitterparteien und sektiererischen Grüppchen. Die meisten dieser Vereine schaffen es nach einer gescheiterten Wahl nicht, über eine Legislaturperiode bis zur nächsten Wahl durchzuhalten. Durch die Formulierung des Relevanzkriteriums bleibt uns die Aufgabe, das Scheitern dieser Gruppen mit 5.243 Stimmen landesweit festzuhalten. Wir werden aber im Vorfeld der Wahl von übereifrigen POV-Pushern verschont, die die Relevenz-per-Relevanzkriterium-Stellung ihres Grüppchens nutzen, um den Artikel mit POV vollzustopfen. Wartungsaufwand zur Neutralisierung steht in keiner Relation zur Bedeutung dieser Vereine. Daher sollte das Relevanzkriterium genausobleiben, wie es ist. Besser wäre es, Relevanz von Parteien an ein errungenes Mandat zu knüpfen.

Fazit

Wikipedia verhält sich nicht demokratisch. Vielmehr untergräbt sie die Prinzipien unserer Demokratie, indem sie einseitig die etablierten Parteien (darunter auch Kleinstparteien) mit realitätsfernen, rein pragmatisch begründeten Regeln bevorzugt.

Enzyklopädisches Interesse besteht jedenfalls spätestens nach der Zulassung zur Wahl – ein Blick in jede Zeitung bestätigt das. Dazu bedarf es nicht der Parallele zu den Rassehunden…

Dieser Beitrag wurde unter Relevanz veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

3 Antworten zu Oligarchie in Wikipedia: Rassehund springt eher über Wikipedias Relevanzhürde als Parteien

  1. Fontanefan sagt:

    Die Wikipedia kann nicht demokratisch sein, weil sie keine Möglichkeit hat, ein zureichendes Quorum ihrer Nutzer zu informieren und keine Möglichkeit, Doppelanmeldungen erfolgreich auszuschließen.
    Bei Sachentscheidungen will sie auch nicht demokratisch sein, weil das sachfremd wäre. In Verfahrensfragen versucht sie, so demokratisch wie möglich zu sein, vgl. Meinungsbilder, praktisch jedes neue Meinungsbild beweist freilich, dass es wegen mangelnder Repräsentanz nicht einmal die Relevanz einer Meinungsumfrage hat.

    Zur Sachfrage hat Rax damals schon alles gesagt: gewichtige Gründe und Gegengründe.

    • admin sagt:

      Wie wir jedes Jahr beim Spendenaufruf oder beim Testlauf für neue Erweiterungen sehen, gibt es die Möglichkeit, alle gegenwärtigen Nutzer zu informieren. Es gibt auch Experimente, um (im Sinne eines Web of Trust) Doppelanmeldungen auszuschließen. Siehe etwa Wikipedia:Persönliche Bekanntschaften. Es wäre aber vorstellbar, statt einem Personenwahlrecht ein Bearbeitungswahlrecht einzuführen: Für jede 10.000 Zeichen, die am Wahltag seit 3 Monaten unangefochten in WP stehen gäbe es für deren Schreiber eine Stimme. Damit wären Sockenpuppen jedenfalls nicht mehr vor Ein-Account-Nutzern im Vorteil. Man müsste dazu allerdings Gleichheit der Wahl neu definieren. Da es kein Staatsvolk gibt, ist das aber vielleicht angebracht.

  2. NurEinWeitererLeser sagt:

    Der Artikel ist nicht neutral geschrieben. (Anm. d. Red.: Stimmt, denn er soll aufrütteln!) So spricht der Autor beispielsweise dann, wenn es um kleine („nicht etablierte“) Parteien geht, davon, der Leser könne sich durch einen Artikel zu diesen vor der Wahl objektiv über diese Parteien informieren, wenn solche Artikel zugelassen wären. Geht es aber um Artikel zu „etablierten Parteien“, heißt es auf einmal, Artikel zu Parteien wäre per se Werbung (Anm. d. Red.: Schön, dass Sie diesen absichtlichen Widerspruch erkannt haben. Damit ist das Werbearguement der Exklusionisten nämlich ad absurdum geführt.):

    "Dabei wird aber ausgeblendet, dass die Wikipedia für die bereits in ihr etablierten Parteien mit eigenen Seiten (Lemmata) wirbt (soweit man die von Wikipedia angestrebte neutrale Berichterstattung überhaupt als Werbung ansehen will)."

    Also was denn nun?

    Entweder, Artikel zu Parteien sind per se Werbung für diese, dann dürfte es gar keine davon geben, oder aber der Wikipedianer „Minderbinder“ hätte recht, wenn er sagt[sic!]: „Wartungsaufwand zur Neutralisierung steht in keiner Relation zur Bedeutung dieser Vereine.“ (Anm. d. Red.: Sie haben die dritte Möglichkeit vergessen: Parteienartikel kann und muss man wie jeden anderen Wikipediartikel neutral halten – Löschgrund wäre dann nicht, dass angeblich generell Parteienartikel nicht neutral sein könnten (Stellvertreterargument), sondern, dass bei einem bestimmten Lemma das nicht gelänge und der Wartungsaufwand zu hoch wäre – was noch zu beweisen ist.)

    Oder um es mal ganz platt zu formulieren: Dieser Artikel ist meiner Meinung nach ein ganz großer „Epic Fail“. Und das von Wissenschaftlern – Wikipedianer sind „wenigstens“ noch Hobbyautoren, die für ihre Arbeit noch nicht einmal bezahlt werden. kopfschüttel

    Mit freundlichen Grüßen,
    NurEinWeitererLeser

    Anm. d. Red.: Vielen Dank für diesen Beitrag. Dass Sie uns wenigstens zum Teil verstanden haben, macht uns Mut, weiter mit Wikipediautoren im Gespräch zu bleiben. Wir sehen es zwar nicht als so großen Fehler an, für eine Erwähnung im Fail-Blog wären wir dennoch dankbar. 😉

Kommentare sind geschlossen.