Wohin steuert Wikipedia? Blick in eine ungewisse Zukunft

Immer weniger ehrenamtliche Autoren, quälende Debatten um die Partizipation der Community bei der Entwicklung neuer Software und die Übermacht des Datenriesen Google. Wir stellen aktuelle Problemfelder vor und fragen: Wohin steuert die Online-Enzyklopädie?

1,7 Millionen Artikel hat alleine die deutschsprachige Wikipedia, englischsprachige sind es über 4,6 Millionen. Das Online-Lexikon ist weltweit die sechsthäufigst aufgerufene Webseite. Während die Popularität bei den Lesern immer weiter wächst, sinkt die Zahl der Autoren, die sich regelmäßig um die Einträge kümmern.

Weniger aktive Autoren & Administratoren

Wie unsere Berechnungen anhand der Wikipedia-Statistik zeigen, sinkt die Zahl der aktiven und sehr aktiven deutschsprachigen Autoren seit Jahren kontinuierlich. 2007 gab es durchschnittlich noch stolze 8.437 Autoren mit mehr als fünf Bearbeitungen im Monat. 2013 waren es nur noch 6.548. Autoren mit mehr als 100 Bearbeitungen im Monat gab es im Mittel nur noch 984 – zum Höchststand 2008 waren es noch 1.078.

Die Zahl der aktiven Autoren sinkt in der deutschsprachigen Wikipedia seit Jahren.

Ähnlich sieht es in der englischsprachigen Wikipedia aus: Im Jahr 2007 gab es im Schnitt 45.674 aktive bzw. 4.408 sehr aktive Autoren. 2013 waren es nur noch 31.003 bzw. 3.139, die sich aktiv beteiligt haben. Aus dem Jahresplan der Wikimedia Foundation wird deutlich, dass neue Autoren vor allem über den Ausbau der technischen Möglichkeiten gewonnen werden sollen, beispielsweise über das mobile Editieren. Bislang sind die Bemühungen aber wenig erfolgreich.

In der englischen Sprachversion zeigt sich ein ähnlicher Trend. Die Autoren wandern schleichend ab.

Googles Übermacht verschärft den Autorenschwund. „Der Trend, den wir in der Risikoanalyse von 2012-13 aufgezeigt haben, geht weiter„, heißt es auf Seite 28 des Jahresplans 2013-14 von Wikimedia: „Google, Apple und andere Major Player streben eine tiefe Integration von Wikipedia-Inhalten in ihren Produkte an, um deren Nutzbarkeit und die Einnahmen durch Werbung zu erhöhen. Aktuelles Beispiel ist Googles (mittlerweile deaktivierte, Link von uns) „Quick View“-Funktion für mobile Geräte, die eine zwischengespeicherte Version von Wikipedia-Artikeln mit nur einem Mausklick sichtbar macht.

Bei „Quick View“ werden Wikipedia-Artikel mit den Suchergebnissen als Vorschaubild geladen. Vielen Nutzern reicht dieser kurze Textauszug aus, so dass immer weniger  Nutzer direkt zu Wikipedia gelangen. Das wiederum macht es schwer, sie als Autoren zu gewinnen, weil dadurch die Möglichkeit fehlt, sie anzusprechen.

Auch Administratoren kehren der Enzyklopädie den Rücken und suchen sich andere Hobbys. Wikipedia-Administratoren (kurz Admins) sind „normale“ Benutzer, die über zusätzliche Werkzeuge verfügen, mit denen sie zum Beispiel Seiten löschen oder Benutzer sperren können. Als „Eingangskontrolleure“ haben sie die Aufgabe, offensichtlichen Unsinn aus der Enzyklopädie herauszuhalten.

Der Vergleich der Liste der aktiven Administratoren mit jener der ehemaligen Administratoren (Stand 1. September 2014) zeigt: Zur Zeit gibt es mehr ehemalige (236:231) als aktive Admins in der Wikipedia – und das obwohl dieses „Amt“ auf Lebenszeit verliehen wird. Durch diesen Trend steige wiederum die Arbeitsbelastung der Übriggebliebenen, was nicht zu einem entspannteren Klima führe, weder für Neulinge noch für alteingesessene Benutzer, schreibt ein Admin auf jetzt.de.

Der “Superprotect”-Streit

Der Streit um den neuen Medienbetrachter offenbart ein weiteres großes Problem der „freien Enzyklopädie“: Der tiefe Graben zwischen der Wikimedia Foundation (WMF) und der Community.

"WMF building wiki wall in August 2014 caricature“ von Don-kun. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0. Nutzungsbedingungen: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/.

Anfang August hatte die deutschsprachige Wikipedia-Community im Medienbetrachter-Meinungsbild beschlossen, die standardmäßige Aktivierung des neu eingeführten Tools zu entfernen. Der Mediaviewer, der das Betrachten von Bildern vereinfacht, sollte fortan inaktiv, aber durch einzelne Nutzer weiterhin einschaltbar sein.

„Da es weniger als 1.000 sehr aktive Wikipedianer gibt, sind die 664 Meinungsbildstimmen hochsignifikant“ (Wikipediocracy via Twitter über den “Superprotect”-Streit)

Was dann folgte, löste eine Welle der Empörung aus: Nachdem die Foundation es abgelehnt hatte, das Meinungsbild technisch umzusetzen, schaltete der Admin DaB. (wer sich für die Einzelheiten interessiert, der lese sie hier nach) den Medienbetrachter durch einen sogenannten JavaScript-Hack vollständig für alle Benutzer ab.

Die Hacker-Aktion wurde zuerst von einem anderen Administrator , anschließend mehrmals von einem Mitarbeiter der Wikimedia Foundation rückgängig gemacht. DaB. setzte den Hack jeweils wieder ein. Um diesen Wheel-War für sich zu entscheiden und die Einführung des Mediaviewers mit „Gewalt“ durchzusetzen, setzte Wikimedia ihre bisher schärfste Waffe ein. Der neu eingeführte „Superschutz“ machte es Mitarbeitern der Stiftung möglich, DaB. davon abzuhalten, das neue Feature zu deaktivieren.

Diese nie dagewesen Machtdemonstration der Foundation zog schärfste Kritik nach sich. Admins traten in den Streik, sogar über die Abspaltung der deutschen Wikipedia wurde nachgedacht.

Wikimedia hat im Streit mit der deutschen Community inzwischen eingelenkt. Der Superschutz wurde rückgängig gemacht. Die Verantwortlichen von Wikimedia geben sich dialogbereit, bestehen aber weiterhin darauf, bei der Einführung neuer Software-Funktionen das letzte Wort zu haben. Mitreden ja, abstimmen nein.

„Wir sehen ein, dass der Einsatz von Superprotect unbeabsichtigterweise den Eindruck erweckt hat, dass wir kein Vertrauen in die Community haben. Dies ist nicht der Fall, weshalb wir die Seitensperre aufgehoben haben.“ (Stellungnahme der WMF-Geschäftsführerin Lila Tretikov und ihres Stellvertreters Erik Möller)

„We have to move away from the idea that voting is the right way to decide software issues – voting doesn’t lead to good software and it doesn’t give rise to consensus – it gives rise to bad and unusable software such as what we put up with every day around here. (Jimmy Wales, Mitbegründer von Wikipedia)

Wer hat das Sagen in der Wikipedia? Wie viel Selbstbestimmung haben die lokalen Communities? Soll die Wikimedia Foundation nur das umsetzen, was die Community wünscht? Oder braucht es gerade im Bereich der Software-Entwicklung einer eigenständigen Strategie, um eine zukunftsfähige Plattform aufzubauen? Diese Debatten werden auf Dutzenden Mailinglisten, Diskussions– und Streitschlichtungsseiten ausgetragen. Eine Einigung liegt in weiter Ferne.

„Schon bei der Information gibt es Defizite. Zwar werden anstehende Änderungen angekündigt. Dies erfolgt aber selbst bei Änderungen, die merkliche Auswirkungen auf die Darstellung von Artikeln haben, nur sehr kurzfristig und als Einzeiler auf einer wenig gelesenen Technik-Seite.“ (Wikipedia-Kurier vom 28. August 2014)

Derartige Konflikte sind nicht neu: Der Bildfilter-Streit, das Desaster um die Einführung Visual Editors und – aktuell – der “Superprotect”-Streit zeigen die Unfähigkeit der Foundation, Mechanismen zu etablieren, die die Communities respektieren und einbinden. Partizipation wird verwaltet, aber nicht gelebt.

Ungewisse Zukunft

Wikipedia steuert in eine ungewisse Zukunft. Der Autorenmangel ist zu einem sehr ernsten Problem geworden. Wie der Trend umgekehrt werden soll, weiß niemand so genau. Gleichzeitig wächst der Druck von Unternehmen wie Google, die zu einer ernsthaften Konkurrenz für Wikipedia werden können.

Großen Nachholbedarf hat die Wikimedia Foundation im Bereich „Product & Engineering“. Die technologische Modernisierung lässt sich die Stiftung im neuen Geschäftsjahr gut 24,9 Millionen US-Dollar kosten, 3,9 Millionen US-Dollar mehr als im Vorjahr. Neben infrastrukturellen Maßnahmen soll die mobile Nutzung verbessert werden. Drei Projekte der Foundation werden fortgeführt: der Abschluss des VisualEditors, die Vollendung des UploadWizards für Wikimedia Commons und die Einführung des neuen Diskussionssystems Flow.

Dass Projekte wie der VisualEditor oder der Medieviewer auf wenig Gegenliebe in der Community stoßen, hat viele Gründe. Fehlende Partizipation ist der wichtigste von ihnen. Der Graben zwischen der Wikimedia Foundation und der Community wird weiter wachsen, wenn die Stiftung nicht verstärkt auf Teilhabe und Beteiligung setzt, ihre Macht stattdessen mit einem „Superprotect“-Status als Waffe durchzusetzen versucht.

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2 Antworten zu Wohin steuert Wikipedia? Blick in eine ungewisse Zukunft

  1. Otto sagt:

    Vermisse Erklärung zu Google Knowledge Graph. Google Knowledge Graph braucht die Einleitung von Wikipedia. Darum verringert sich die Klicks zu Wikipedia UND neue Autoren können nicht angesprochen werden.

    • Falke sagt:

      Der Knowledge Graph ist erst der Anfang. Der Knowledge Vault steht schon in den Startlöchern. Ohne menschliche Hilfe durchforstet die neue Technologie das Internet nach Informationen und erschafft daraus eine gigantische Wissensdatenbank. Die Klicks sind im Übrigen gar nicht so sehr das Problem. Auf Traffic ist die Wikimedia Foundation als gemeinnützige Organisation viel weniger angewiesen als durch Werbung finanzierte Seiten. Zumal nach Angaben der Foundation die page views weiter wachsen. Features wie der von Ihnen angesprochene Knowledge Graph machen es hingegen sehr schwierig, neue Autoren für das Projekt zu gewinnen. Das ist das Kernproblem. Oder wie es die Foundation in ihrem Jahresbericht ausdrückt: „this type of feature also removes any invitations to contribute“.

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