Gibraltar sucht Touristen: Wikimedia-Mitarbeiter macht bezahlte Reise-PR – 17 mal allein auf der englischen Startseite


„Did you know?“ heißt eine täglich aktualisierte Rubrik auf der Startseite der englischsprachigen Wikipedia, in der deutschen Wikipedia heißt sie: „Schon gewusst?“ Man erfährt darin heute etwa, dass der deutsche Komponist Franz Lehrndorfer mehr als 30 Jahre lang Organist der Münchner Frauenkirche war. Die englische Startseite gehört zu den meistbesuchten Websites der Welt: Insgesamt verzeichnete der englische Sprachraum im August 2012 knapp 7,9 Milliarden Seitenabrufe, täglich etwa 263 Millionen – die Startseite allein soll mehrere 100 Millionen Besucher pro Monat haben.

Als PR-Profi mit viel Wikipedia-Erfahrung, oder Wikipedia-Profi mit viel PR-Erfahrung, weiß man also, wo man Werbung zu platzieren hat. Ein solcher Doppelprofi ist Roger Bamkin, beruflich PR-Berater und laut Wikimedia Großbritannien-Website Trustee der britischen Wikimedia-Stiftung, laut seinem eigenen Linkedin-Karriereprofil Direktor von Wikimedia Großbritannien und früherer Vorstandsvorsitzender der Organisation. Ebenso wie früherer Leiter des e-commerce bei Rolls-Royce.

Einer der Kunden des PR-Beraters Roger Bamkin ist die Regierung des britischen Überseegebiets Gibraltar am südlichen Zipfel der Iberischen Halbinsel. Und so kam es, dass das kleine Gibraltar ganze 17 mal in der „Did you know?“-Rubrik auf der englischen Startseite auftauchte, und dies allein im August 2012. Darin konnten die Wikipedia-Nutzer etwa erfahren, dass die Ocean Village Marina im Juni 2012 zum diamantenen Thronjobiläum Königin Elisabeths II. die Schiffsparade Diamond Jubilee Flotilla veranstaltete. Oder, dass der Grand Casemates Square (diesmal mit Bild auf der Startseite), einst ein Ort, an dem Menschen öffentlich erhängt wurden, nun einer der Hauptplätze des kleinen Gibraltars und ein Hotspot für das Nachtleben ist. So geht es in den 15 anderen Notizen weiter. Allesamt könnten auch eins zu eins übernommen sein aus einem Reiseführer.

Die Aktion ist Teil des sogenannten Gibraltarpedia-Projekts. Gibraltar soll gar den Titel der weltweit ersten „Wikipedia-City“ erhalten, nachdem das Städtchen Monmouth in Wales schon einmal „The world’s first Wikipedia-Town“ war. Einer der Bestandteile der Aktion ist QRpedia (mehr zum Konzept auch hier). QR-Codes, die man mit den meisten Handys scannen kann, hängen an Parks, Blumenbeeten, Gebäuden und verweisen auf den passenden Wikipedia-Artikel. Das Rundum-Informationspaket für Gibraltar-Touristen.

Die PR-Geschichte recherchiert und veröffentlicht hat die Bloggerin Violet Blue im amerikanischen Tech-Magazin cnet am 18. September, der Titel: „Corruption in Wikiland? Paid PR scandal erupts at Wikipedia“ („Korruption im Wikiland? Bezahlter PR-Skandal bei Wikipedia“). Verschiedene Medien haben diese aufgegriffen, etwa gestern die Frankfurter Rundschau.

Bereits seit dem 21. Juli 2012, zwei Monate vor der Enthüllung auf cnet, erwähnt die Website von Wikimedia-Großbritannien die Tätigkeit von Roger Bamkin für die Regierung von Gibraltar. Der Nutzer Victuallers (so heißt auch die Firma von Bamkin) schrieb beim Abschnitt zu möglichen Interessenkonflikten Bamkins:

„At the end of June Roger signed a contract with the Government of Gibraltar. There is no known COI as WMUK does not have a relationship with this Government but it is hoped that one may develop.“

Einen Interessenkonflikt gebe es nicht, da Wikimedia Großbritannien keine Beziehung zur Regierung von Gibraltar habe. Aber es solle sich eine entwickeln. Inzwischen ist diese Seite geschützt vor Änderungen.

Dass Wikipedia-Mitarbeiter Inhalte der Online-Enzyklopädie, noch dazu an so prominenter Stille manipuliert haben, ist tatsächlich eine neue Qualität der PR-Probleme, mit denen die Wikipedia zu kämpfen hat. Die Diskussion in der Community ist entsprechend heftig.

Wie gut die PR-Aktion funktioniert, dokumentierte ausgerechnet die BBC am 17. September. Ausführlich berichtet BBC News Technology darüber, wie Gibraltar mithilfe von QR-Codes und Wikipedia Touristen anlockt.

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