Die Wikipedia in ihrem Lauf hält kein Moderator auf


„Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ Erich Honecker sprach diesen berühmtesten seiner Sätze im August 1989, wenige Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer, ausgerechnet bei der „Übergabe erster Funktionsmuster von 32-bit-Mikroprozessoren durch das Kombinat Mikroelektronik Erfurt.“ So ist es im Honecker-Artikel in Wikipedia nachzulesen. Den Sozialismus in seinem Lauf hat wenig später die Geschichte aufgehalten. Und Mikroelektronik und Sozialismus sind derzeit auch in Wikipedia zum Erliegen gekommen. Der Grund: Eine Diskussion um die begrifflichen und historischen Widersprüchlichkeiten und Zusammenhänge zwischen Sozialismus und Nationalsozialismus haben zu einem Edit War mit sechs Reverts binnen vier Tagen geführt. Der Artikel „Sozialismus“ ist bis zum 28. Juni, 12.43 Uhr, gesperrt. Die digitalen Ochs und Esel haben zugeschlagen.

In dem Streit zwischen den wenigen beteiligten Autoren geht es darum, ob es im Artikel „Sozialismus“ einen Abschnitt „Nationalsozialismus“ geben soll oder nicht. Der Autor „Tirelietirelei“ löscht diesen beharrlich, weil er der Meinung ist, „dass der Faschismus bzw. seine deutsche Spielart, der Nationalsozialismus, eindeutig nichts mit Sozialismus zu tun hat, wenn man einmal davon absieht, dass er Sozialisten massiv verfolgt, ins Exil getrieben und ermordet hat.“ In jeder „ernstzunehmenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung“ werde man Belege dafür finden, dass das faschistische Deutschland weiterhin ein kapitalistisch organisiertes Wirtschaftssystem gehabt habe. „In Respekt vor der Geschichte und den Opfern des Faschismus entferne ich diesen Abschnitt“, schreibt der Autor auf der Diskussionsseite.

Nun ist es nicht so, dass im Wikipedia-Artikel die Idee des Sozialismus in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt worden wäre. Im Mittelpunkt des Streits steht vielmehr ein sehr neutral formulierter, verschiedene Positionen von Historikern wiedergebender Text, der etwa Joachim Fest, Götz Aly und Hans-Ulrich Wehler zitiert. Wikipedia wertet nicht, ordnet nicht ein an dieser Stelle. Das Prinzip des neutralen Standpunkts (NPOV) wird beherzigt. Eben deshalb sieht sich der löschende Autor deutlicher Kritik anderer Wikipedianer ausgesetzt, die aufgrund des begrifflichen Zusammenhangs und der kontroversen Positionen der Geschichtswissenschaft an dem Abschnitt festhalten wollen. Die gesperrte Artikelversion beinhaltet diesen auch. Häufig passiert das Gegenteil, gekürzte und geänderte Versionen werden entgegen überwiegender Autorenmeinungen gesperrt um Konflikte kurzfristig zu stoppen. In diesem Fall hat sich vorerst nicht der aggressivere Autor durchgesetzt.

Der Edit War ist exemplarisch. Es geht um ein ideologisch aufgeladenes Thema. Es gibt eine Kontroverse zwischen Autoren. „Tirelietirelei“ schreibt am 13. Juni um 23.17 Uhr, als er den Abschnitt löscht, zur Begründung: „Wahrheit wiederhergestellt.“ Autoren erheben einseitig Wahrheitsansprüche dort, wo es um verschiedene Auffassungen zu Geschichte und Politik geht. Dies ist ein häufiges Problem in der Wikipedia.

Da die üblichen Streitschlichtungsmechanismen – Diskussion, häufig Eskalation, reverten, blockieren, löschen – an ihre Grenzen stoßen, gibt es in der Wikipedia neue Überlegungen um bestehende Regelkreise zu durchbrechen. Wiki-Watch berichtete hierüber bereits im Zusammenhang mit der „Editor Trends Study“ und den Plänen der internationalen Wikimedia-Stiftung, Autorenschwund und Frustration entgegen zu wirken („Wikimedia-Fünfjahresplan: Freundlich sollt Ihr sein!“, Wiki-Watch, 20. April 2011). Im Mittelpunkt steht ein aktuelles Meinungsbild dazu, ob Moderatoren in Konfliktfällen vermitteln sollen, was ihre Aufgaben dabei sein und welche Prinzipien ihrer Arbeit zugrunde liegen sollen. Der Autor „Friedrich Graf“, der über seine eigene Auffassung der Wikipedia auf seiner Benutzerseite schreibt, er wünsche sich eine Online-Enzyklopädie so „artenreich und bunt wie ein Garten, so unverwüstlich wie die Natur“, hat diese Abstimmung gestartet. Der Vorschlag ist, neben den bestehenden Sichtern, Administratoren, Mentoren und Vermittlern die Rolle von Moderatoren zu schaffen, die Konflikte aktiv beeinflussen sollen um konstruktive Lösungen zu erreichen. So sollen Konfliktthemen von der üblichen Artikelarbeit getrennt werden, im obigen Fall des Artikels „Sozialismus“ wäre dies sinnvoll. Strittige Passagen könnten als Entwürfe gekennzeichnet werden, Diskussionsbeiträge könnten in ihrer Länge auf 2000 Zeichen begrenzt werden um ausufernde Debatten konstruktiver und zielorientierter zu machen. Wird der Druck einer drohenden Sperrung verringert, gewinnen die Autoren auch Zeit für differenzierte Argumentationen. Denn Wikipedia setzt den Konsens voraus, und der ist mühsam zu erzielen. Ein „Top oder Flop“ darf es in der Regel nicht geben. Moderatoren sollen dabei ähnlich wie Administratoren gewählt werden. Wahlvoraussetzung sind die mindestens zweijährige Tätigkeit als Sichter und die Aktivität als Autor in den jeweils vergangenen drei Monaten.

Das Meinungsbild stieß hier und hier schon auf kontroverses Feedback, als es noch gar nicht gestartet war. Die inhaltliche Abstimmung über den Vorschlag hat am 9. Juni begonnen und endet am 30. Juni. Derzeit zeichnet sich eine deutliche Mehrheit gegen die Einführung von Moderatoren ab. Dafür sind bis dato 23, dagegen 50 Wikipedianer, neun enthalten sich. Auch lehnen 57 zu 34 Stimmen bereits die formale Gültigkeit des Meinungsbilds ab. Zum Vergleich: 7615 registrierte Editoren waren in den vergangenen sieben Tagen in der deutschsprachigen Enzyklopädie aktiv, die Beteiligung bewegt sich also bislang im Bereich von ein bis zwei Prozent. Einige verlangen eine Zwei-Drittel-Mehrheit, um eine so grundlegende Änderung der Wikipedia-Regeln zu beschließen. Das Meinungsbild setzt dagegen nur eine Zustimmung von 55 Prozent voraus. Ein Vorschlag ist, statt des Meinungsbilds eine unverbindlichere Wikipedia-Umfrage zu starten. Andere begrüßen die Idee, sehen aber die konkrete Umsetzung kritisch. Ein Wikipedianer schreibt: „Das klingt eher wie eine Übung in theoretischer Soziologie.“

Inhaltlich ist das Meinungsbild, gleich wie es am Ende ausgeht, ein Gewinn. Insbesondere der Appendix mitsamt zugehöriger Diskussion beinhaltet treffende Analysen dessen, was derzeit manche Debatten innerhalb der deutschsprachigen Wikipedia so unangenehm macht. So werden darin Gruppen von Störern genauer klassifiziert, etwa die „Klassiker“:

  • Von Sockenpuppen spricht man, wenn ein Nutzer unter verschiedenen Wikipedia-Accounts agiert.
  • Ein Troll ist ein Nutzer, der in Debatten stark provoziert.
  • Rabulisten sind Wortverdreher und Haarspalter.
  • Und schließlich: Filibuster sind jede Diskussion zermürbende Dauerredner.

Neben diese treten im Appendix zum Meinungsbild näher beschriebene Effekte wie die „Streubombe“, wenn sich ein Konflikt schnell ausbreitet und sich in Edit Wars, auf der Diskussionsseite, in Vandalismusmeldungen und vielem weiteren niederschlägt. Vom Spiel „Guter Bulle, böser Bulle“ ist die Rede, wenn ein Nutzer als Sockenpuppe unter mehreren Identitäten widersprüchlich argumentiert, die „Logik-Falle“ („bei vernünftig klingenden Halbwahrheiten“), die „selbsterfüllende Prophezeiung“ oder Diskussionen im Zirkelschluss.

Aus dieser Analyse leiten die Initiatoren des Meinungsbilds beispielhaft Verhaltensnormen für die Zusammenarbeit in Wikipedia sowie einen Verhaltenskodex für (etwaige künftige) Moderatoren ab. Ihr Tenor: Respekt, Offenheit, Freundlichkeit und Konstruktivität. Bis zum 30. Juni sind es noch zwei Wochen, nach einem Erfolg des Moderatorenvorschlags sieht es derzeit nicht aus.

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