Die Einführung des Visual Editors ist ein Desaster

Die kollaborative Plattform Wikipedia steht vor einer großen Herausforderung. Fast jeder nutzt die Sammlung freien Wissens. Doch die wenigsten beteiligen sich aktiv an dem Mitmach-Lexikon. Die Zahl der weltweit aktiven Autoren schrumpft auf hohem Niveau.

Mit der Einführung von zwei neuen Funktionen will die Wikimedia Foundation (WMF) den Autorenschwund stoppen. Zum einen können Artikel jetzt auch am Smartphone oder Tablet-Computer bearbeitet werden. Zum anderen wird der sog. Visual Editor eingeführt.

Ziel der neuen Bearbeitungsoberfläche ist es, Änderungen an Artikeltexten vorzunehmen, ohne die gerade für Anfänger schwierige Auszeichnungssprache Wiki-Syntax in MediaWiki verwenden zu müssen. In Zukunft soll das Schreiben von Texten in der Wikipedia ähnlich leicht sein wie beispielsweise mit Microsoft Word.

Doch das Prestigeprojekt kommt nicht in die Gänge: Wegen erheblicher Mängel wurde die Aktivierung des Editors als Standard für unangemeldete Benutzer in der deutschen Sprachversion schon zum zweiten Mal verschoben – auf unbestimmte Zeit.

„Wikipedians say no to Jimmy’s ‚buggy‘ WYSIWYG editor“ (The Register, 1. August 2013)

Auch Nutzer der englischen Wikipedia rebellieren gegen die neue Software: über 470 Benutzer sprechen sich dafür aus, die Nutzung des Visual Editors wieder als Option (“Opt-in” statt “Opt-out”) zu gestalten.

Über 700 noch offene Fehler

Wie konnte die Foundation ein so wichtiges Millionen-Projekt derart gegen die Wand fahren?

Es begann am 15. Juli 2013: Nach jahrelanger Planung wurde der Visual Editor auf der englischsprachigen Wikipedia für alle Benutzer verfügbar gemacht. Am 24. Juli wurde die neue Benutzeroberfläche in den größten Wikipedias (de, es, fr, he, it, nl, pl, ru, sv) zunächst für angemeldete Benutzer freigeschaltet. Ende Juli wurde der WYSIWYG-Editor auch für unangemeldete Benutzer freigegeben.

Doch die Kritik am neuen Tool nahm kein Ende. Nach dem niederschmetternden Ergebnis einer Blitzumfrage entschied sich die deutschsprachige (und später auch die niederländische) Wikipedia, die Einführung des Tools bis auf weiteres zu verschieben.

Ein Mitglied des Visual-Editor-Teams der WMF gab auf Bugzilla bekannt, dass die Einführung des Editors in der deutschen Wikipedia vorerst ausgesetzt und für angemeldete Benutzer wieder als „Opt-in“ zur Verfügung gestellt werde. Mehr als 450 angemeldete Benutzer hatten sich für diese Vorgehensweise in der Umfrage ausgesprochen.

Konsequent die Community ignoriert

Die Probleme sind hausgemacht. Wieder einmal hat die Foundation über die Köpfe der Community hinweg entschieden. Herausgekommen ist ein „unvollständiges, nicht performantes und fehlerbehaftetes Produkt„, das nicht einmal den Namen „Beta-Version“ verdient hat, so die weitverbreitete Meinung in der Community.

Ein Überblick über die bisher bekannten Fehler zeigt, dass die Softwareentwickler ein völlig unbrauchbare System zur Verfügung gestellt haben, das angemeldete wie unangemeldete Benutzer vergrault.

Benutzer:Gleiberg kritisiert hier völlig zu Recht:

„Wir arbeiten hier ehrenamtlich. Wenn man anhaltend mit oberflächlichen, nicht durchdachten Software-Projekten gegängelt wird und als Versuchskaninchen die Folgen ausbaden darf, ist die Motivation schnell dahin. Wenn man diese „Super-Projekte“ dann auch noch technisch aufgezwungen bekommt, kann man eigentlich nur noch die Mitarbeit einstellen. Abwahl aller gewählten Community-Vertreter, die so konsequent die Community ignorieren.“

Das Entwicklerteam hat offenbar nicht erkannt, worauf es ankommt. So ist die Benutzerführung unausgereift. Entgegen seiner Zielsetzung ist der Editor nicht sehr benutzerfreundlich. Neben der mangelhaften Usability wird der Editor immer wieder als zu langsam kritisiert. Der Wikipedia-Gemeinschaft wurde also ein Tool zur Verfügung gestellt, das noch mitten in der Entwicklung steckt.

Wer ist Schuld an diesem Desaster? Den Entwicklern des Editors wird man die Verantwortung nur schwer in die Schuhe schieben können. Projekte wie dieses sind hochkomplex. Bugs sind bis zu einem bestimmten Grad unvermeidbar.

Benutzer:W. Edlmeier sieht die Verantwortung bei der Wikimedia Foundation, die den Editor erst hätte an erfahrenen Benutzer testen sollen, bevor er auf die Community losgelassen wird.

„Für interessierte Neulinge einen technisch möglichst niedrigschwelligen Einstieg anbieten – die Idee ist an sich super. In der derzeitigen Form ist das Ding aber keine Hilfe, sondern eher eine Zumutung. Das soll kein Vorwurf an die Programmierer sein; ich weiß, wie viel Arbeit da schon drin steckt und ich bin überzeugt, dass der VE großes Potential hat – nur ist er eben noch lange nicht fertig, und das wissen die Programmierer auch. Der Vorwurf richtet sich vielmehr an die Verantwortlichen in der Foundation, die uns auf Biegen und Brechen ein unausgereiftes Tool aufs Auge drücken wollen. Insgesamt hinterlässt der VE derzeit noch einen schrecklich unprofessionellen Eindruck – und das wird potentielle Neulinge eher abschrecken.“

Doch offenbar wollte Wikimedia ein unfertiges Produkt auf „Biegen und Brechen“ durchdrücken. Wie die vielen Diskussionen zur Einführung des neuen Editors zeigen, wurde dadurch die Akzeptanz der Software in der Community stark beschädigt.

Das Deployment des Visual Editors wird als „arrogant und rücksichtslos“  wahrgenommen. Viele fragen sich, warum das die Foundation nicht vorhergesehen hat. Ist ihnen die Community egal?

Visual Editor schreckt neue Benutzer ab

Viele Benutzer befürchten, dass der „Buggy“-Editor vor allem Neulinge abschreckt.

„Gestern bei einem 10-Minuten-Edit kein Speichern möglich. Musste die Arbeit komplett verwerfen, 10-12 Minuten für die Katz! Neue Schreiber und IPs werden vielleicht keinen zweiten Versuch machen.“, schreibt Benutzer:H7 resigniert.“

Das ist keineswegs eine reine Vermutung. Das zeigt eine erste Untersuchung zu den Auswirkungen des Visual Editors auf neu registrierte Benutzer:

„Newcomers with VE enabled performed less wiki-work and spent less time editing overall. They were also marginally less likely than users with the wikitext editor to eventually save an edit.“

Die neue Software hat ihre Zielsetzung gründlich verfehlt. Es wurden keine Hürden für Neulinge beseitigt, sondern im Gegenteil neue Hürden aufgestellt – und das nach jahrelanger Entwicklungszeit.

Wikimedia muss jetzt alles tun, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Zu spät hat die Stiftung Meinungen und Sorgen der aktiven Autoren bei der Umsetzung des Visual Editors berücksichtigt.

Chefentwickler Erik Möller aka User Eloquence äußerte sich via  The Signpost zum Visual Editor. Er macht keinen Hehl daraus, die Community als Versuchskaninchen zu benutzen. Das sei an­ge­sichts der Komplexität des Projekts alternativlos. Man könne bei derart vielen Browsern, Betriebssystemen und Gerätekonfigurationen nicht alles vorher testen. Umso mehr sei man auf die Hilfe der Community angewiesen.

„We are listening, and are continuing to iterate, in partnership with you. Thanks to you for embracing change while helping us to get it right.“

Es gibt kein Zurück

Es führt kein Weg am neuen Visual Editor vorbei. Auch wenn viele etablierte Wikipedianer am liebsten ihre gewohnte Wiki-Syntax behalten wollen (Stichwort: „Die Banalisierung der Wikipedia„), irgendwann wird der Visual Editor funktionieren.

Wird er die in ihn gesteckten Hoffnungen erfüllen können? Wird der Visual Editor Heerscharen von Freiwilligen motivieren, bei Wikipedia mitzumachen? Benutzer:Aschmidt und andere sind skeptisch:

„Meine Prognose wäre, dass wir auch mit VE weiterhin unter uns bleiben werden. Das enzyklopädische Schreiben ist bei weitem nicht jedermanns Sache. Keine Essays, alles nur mit Fußnoten, und gleich kommt einer hinterher und korrigiert die Bindestriche zu Gedankenstrichen. Die Zahl der Autoren wird sich dadurch nicht erhöhen.“

Was bleibt? Die vielen Bugs waren Wikimedia bekannt. Die Foundation hätte den Start wegen der absehbaren Probleme schon viel früher verschieben sollen und das auch kommunizieren müssen.

Der Visual Editor wird es schwer haben – die Vorgehensweise der WMF hat viel Kredit verspielt. Das hätte nicht sein müssen. Geben wir dem Visual Editor trotz des holprigen Starts eine Chance.

Hi!

Der VE hat unbestreitbar Features die dem puren Quelltext-Bearbeiten bei weitem überlegen sind. Z.B. dass man beim Verlinken aus existierenden Seiten wählen kann, dass beim Einbinden von Vorlagen verfügbare Parameternamen vorgeschlagen werden (zumindest in der Theorie), dass man nicht mehr die „Vorschau“ benutzen muss, usw.

Leider haben die zuständigen Leutchen beim WMF die Einführung des VE so unprofessionell wie möglich durchgeführt. Durch das aggresive Durchdrücken eines unfertigen Produkts wurde die Akzeptanz des VEs in der Community sehr stark beschädigt. Die Community wird jetzt viel stärker auf das Können und Nicht-Können des VEs achten. Die Messlatte die der VE überspringen muss bevor er von der Mehrheit der Community re-akzeptiert wird, wurde massiv nach oben katapultiert.

Die Reaktion der Community bei solch‘ einem arroganten und rücksichtslosem Deployment des VEs ist völlig erwartbar (zumindest für mich). Ich frage mich, warum das dem WMF nicht klar war/ist. Oder ist ihnen die Community egal? Will die WMF gerade dass wir rebellieren? Vllt wollen sie uns aus unserem Alltragstrott wachschütteln 😉 ?

Das schlimmste ist, dass es nicht 3 Leutchen sind die beim WMF am VE arbeiten und in das Projekt + Deployment involviert sind. Dort gibt es einen riesen Haufen an festangestellten Programmierern und auch einen riesen Haufen an festangestellten Produktmanagern. Das erstere Gruppe sich nur ums Programmieren kümmern, somit nur den technischen Aspekt, nicht den sozialen Aspekt der Einführung des VEs betrachten, -> geschenkt. Aber der letztere Haufen „Produktmanager“ ist gigantisch groß und deren Job ist es eine reibungsfreie Einführung zu gewärleisten und zu organisieren. Dort gibt es „Director of Product Development“, „Community Liaison, Product Development and Strategic Change Management“, „Product Manager, Editor Engagement“ und noch viele viel mehr. Insgesamt 12!!! Produktmanager. Dazu gibt es noch andere Bereiche wie „Engineering Community“ (mit 4 Mitarbeitern), Qualitätssicherung mit 2 Mitarbeitern, „Analytics“ mit 7 Mitarbeitern, und „User Experience“ mit 5 Mitarbeitern. (Siehe unter „Engineering and Product Development“ -> Team. M.E. haben die alle einen grandios schlechten Job gemacht! —Svebert (Diskussion) 14:16, 27. Jul. 2013 (CEST)

Tja, das 100-Mann-Team (!) braucht halt seine Daseinsberechtigung und wird uns wahrscheinlich auch weiterhin noch mit vielen „nützlichen“ Features überhäufen. Ob die neuen Funktionen wirklich gebraucht werden, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.–Sinuhe20 (Diskussion) 14:50, 27. Jul. 2013 (CEST)
Und meiner Meinung nach würde es der Qualität deiner Beiträge gut tun, wenn du nicht, offensichtlich ohne nähere Kenntnis der genauen Abläufe, über „alle“ Mitglieder eines Teams herziehen würdest. — Pajz (Kontakt) 16:04, 27. Jul. 2013 (CEST)
  • Dass man beim Verlinken aus existierenden Seiten wählen kann: Das geht doch bereits im Quelltexteditor mit Hilfe des Linkassistenten.
  • Dass beim Einbinden von Vorlagen verfügbare Parameternamen vorgeschlagen werden (zumindest in der Theorie): Ein solcher Vorlagenassistent würde dem Quelltexteditor auch guttuen, warum gibt es soetwas bislang nur für den VE?
  • Dass man nicht mehr die „Vorschau“ benutzen muss: Es gibt doch bereits seit Langem eine Livevorschau als Opt-in, damit muss man nicht mehr auf Vorschau klicken. —Morten Haan · Wikipedia ist für Leser da 17:02, 27. Jul. 2013 (CEST)
?Watt??? Ui da habe ich ja was verpennt :D. Die Knöpfe im Quelltexteditor verwende ich gar nicht. Habe das gerade mal ausprobiert… nun weiß ich auch, warum ich beide Sachen nicht nutze: Die Live-Vorschau funktioniert nichtmal beim Einfügen eines Rotlinks und man muss vom Quelltext hochscrollen. Daher nicht vergleichbar mit der Bequemlichkeit im VE. Der Linkassistent ist ja noch nerviger als der VE: Popup geht auf und restlicher Bildschirm wird „geschwärzt“. Neee, da ist die VE Lösung 100mal besser.–Svebert (Diskussion) 17:23, 27. Jul. 2013 (CEST)

@Pajz: Du darfst auch gerne über mich herziehen… Null Problemo. Ich ziehe daher über alle her wie ich will :P–Svebert (Diskussion) 17:25, 27. Jul. 2013 (CEST)
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