Der Blackout von Wikipedia – Analyse eines virtuellen Protests


Ein Tag ohne frei verfügbares Wissen – am 18. Januar 2011 war das Realität für über 162 Millionen Nutzer der englischsprachigen Wikipedia. Wer an diesem Mittwoch die Online-Enzyklopädie ansurfte, bekam keinen Zugriff. Mit dem „Blackout Day“ protestierte die Online-Community gegen zwei Gesetzesentwürfe zur Bekämpfung von Internetpiraterie: den Stop Online Piracy Act (SOPA) und den Protect IP Act (PIPA).

Der Blackout von Wikipedia ist ein Meilenstein in der Geschichte des Cyberspace. Der gemeinsame Protest, an dem sich neben Reddit, Boing Boing, XKCD viele weitere Seiten mit ähnlichen Maßnahmen beteiligten, konnte die heftig kritisierten Anti-Piraterie-Gesetze vor dem US-Kongress vorerst stoppen: Zwei Tage nach den dezentralen Aktionen wurde bekannt gegeben, dass die Gesetzgebung verschoben werden würde.

Die Welt wurde Zeuge einer bemerkenswerten Online-Debatte, die sich fundamental vom offenen und anarchischen Entscheidungssystem der Wikipedia („jeder darf alles ändern“) unterschied. Die Initiative für die Aktion kam von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales persönlich, und war eng verbunden mit einer massiven Beteiligung der Wikimedia Foundation.

Warum es dennoch zu keiner Rückkehr zu traditionellen hierarchischen Methoden des Top-down-Prinzips kam, beschreibt die Harvard-Studentin Ayelet Oz in ihrem aktuellen Aufsatz. Wiki-Watch stellt euch die spannende Analyse ausführlich vor.

Autorität und Anarchie: Legitimität in der Wikipedia

Auf den ersten Blick passen Autorität und die „anarchische Wiki-Welt“ nicht zusammen. Denn in Wikipedia soll jede Entscheidung frei sein von Nötigung und Hierarchie: In der Online-Enzyklopädie darf jeder mitmachen, Artikel schreiben und das Vorhandene ändern. Es gibt keine Chefredaktion, die darüber entscheidet, welche Teile der Enzyklopädie weiter bearbeitet werden müssen. Das ist die Essenz des „jeder darf alles ändern“-Prinzips: jeder Besucher hat die Möglichkeit, Wikipedia-Seiten einseitig zu bearbeiten, ohne vorherige Genehmigung.

Darüber hinaus beruhen Entscheidung in der Wikipedia traditionell auf Konsens. Wahlen sind eher die Ausnahme. Konsens wird als der beste Weg angesehen, um eine Entscheidung in der Community herbeizuführen – und ist sogar eine der fünf Säulen der englischsprachigen Wikipedia.

Konsens gilt als das einzige Verfahren, das die partizipativen, kooperativen und egalitären Werte der Gemeinschaft am besten erreicht, schreibt der US-Wissenschaftler Joseph Reagle in seiner Untersuchung „The Culture of Wikipedia„. Dagegen misstrauen Wikipedianer traditionell eher solchen Entscheidungen, die auf einer Abstimmung oder Wahl basieren. Umfragen werden als eine Art Übel angesehen.

Ayelet Oz fasst das so zusammen:

In comparison, Wikipedians traditionally distrust votes and polls as mechanisms for decision. Various user–authored essays treat polls as an evil that needs to be used as little as possible. Polls are considered as discouraging the attempt to find common ground and leave the community divided. Polls also encourage a false dichotomy of only two possible answers and thus oversimplify the debated questions.

Konsensentscheidungen haben jedoch einen entscheidenden Nachteil: Sie nehmen viel mehr Zeit und Mühe in Anspruch als eine Abstimmung. Offene Diskussionen sind komplexer und dauern in der Regel deutlich länger als Umfragen.

Oft ist es schwer, herauszufinden, ob Konsens in einer bestimmten Diskussion erreicht werden konnte oder nicht. Bei Umfragen hingegen zeigt ein einfaches Durchzählen das Ergebnis an. Und da jede Stimme für sich steht, kann eine sehr große Zahl von Editoren an der Entscheidung beteiligt werden.

Im diametralen Gegensatz zur egalitären Ideologie der Wikipedia steht die einzigartige hierarchische Position des charismatischen Wiki-Gründers Jimmy Wales.

„Jimbos“ Rolle innerhalb der Wikipedia ist umstritten und unklar. Die Wikipedia-Informationsseite „Role of Jimmy Wales“ beschreibt seine Autorität als „ad hoc„, die nur ausgeübt wird, wenn andere Entscheidungsmechanismen versagt haben. Wales selbst ist bestrebt, seine formale Autorität zu beschränken, um sich der Community anzugleichen. So nahm er es freiwillig auf sich, jeder Entscheidung zu folgen, die gegen ihn gemacht werden würde, um eine interne Streitbeilegung zu stärken.

Der Prozess, der zum Wikipedia-Blackout führte

Wie schafft es Wikipedia, bei wichtigen Entscheidungen den Gegensatz von Autorität und Anarchie zu überwinden? Wie war es für Jimmy Wales möglich, den Blackout der englischsprachigen Wikipedia auf den Weg zu bringen, obwohl „offene Projekte“ wie Wikipedia einzelne nicht-koordinierte Aktion ohne Weisung von oben bevorzugen?

Ohne alternative Quellen der Autorität (Zwang, Geldprämien, etc.) ist die Zustimmung der Community die wichtigste Quelle des Gehorsams. Für die offene und anarchische Ideologie der „open projects“ ist die Stimme der Community-Mitglieder am wichtigsten. Folglich laufen alle Top-down-Entscheidungen Gefahr, als illegitim angesehen zu werden. Sie lösen einen heftigen Widerstand in der Community aus.

Ayelet Oz spricht von einer „Leiter“ der Legitimität: Konsens gefolgt von einer offenen Diskussion ist der am meisten legitime Weg, um Entscheidungen zu treffen. Ein weniger legitimer Weg ist die Abstimmung. Aktionen, die allein auf Hierarchie beruhen, sind am umstrittensten.

Andererseits bringt kollektives Handeln viele Probleme mit sich, die das Erreichen einer praktischen Entscheidung aufgrund endloser Debatten gefährden könnten. Diese beiden Achsen stehen im umgekehrten Verhältnis zueinander: Um Legitimität für eine Aktion zu gewinnen, müssen Aktionen auf Konsens beruhen; andererseits muss der Prozess der Entscheidungsfindung einfach gehalten werden.

Der Prozess, der der Entscheidung zum Wikipedia-Blackout vorausging, um gegen SOPA zu protestieren, ist ein Paradebeispiel für das Zusammenspiel der verschiedenen Arten von Autorität und Legitimität in der Wikipedia. Die Diskussion bewegte sich ständig zwischen Charisma, Abstimmung und Konsens. Bindende communitybasierte Entscheidungsverfahren folgten einer „weichen“ nicht erzwungenen charismatischen Führung.

Die Idee zum Protest gegen SOPA wurde von Jimmy Wales ins Leben gerufen, und zwar auf seiner Diskussionsseite. Zwar gab es bereits Forderungen nach Maßnahmen in Bezug auf SOPA auf Community-Foren, dies führte aber zu keiner praktischen Entscheidung.

Erst am 10. Dezember 2011, als Wales einen Beitrag mit dem Titel „Request for comment: SOPA and a strike“ auf seiner Diskussionsseite veröffentlichte, bewegte das den Prozess entscheidend voran:

(Please help me publicize this widely.) A few months ago, the Italian Wikipedia community made a decision to blank all of Italian Wikipedia for a short period in order to protest a law which would infringe on their editorial independence. The Italian Parliament backed down immediately. As Wikipedians may or may not be aware, a much worse law going under the misleading title of ‘Stop Online Piracy Act’ is working its way through Congress on a bit of a fast track. […]. My own view is that a community strike was very powerful and successful in Italy and could be even more powerful in this case. […] At the same time, it’s of course a very very big deal to do something like this, it is unprecedented for English Wikipedia.

Nach diesem Beitrag initiierte „Jimbo“ eine Probeabstimmung, in der die Benutzer aufgefordert wurden, entweder für oder gegen seinen Kommentar abzustimmen. Die Community wurde hierbei aufgefordert, eine breite Diskussion zu vermeiden. Wales betonte, dass der „straw poll“ keine Abstimmung sei:

To be clear, this is NOT a vote on whether or not to have a strike. This is merely a straw poll to indicate overall interest. If this poll is firmly ‚opposed‘ then I’ll know that now. But even if this poll is firmly in ’support‘ we’d obviously go through a much longer process to get some kind of consensus around parameters, triggers, and timing.

Über 500 Wikipedianer kommentierten diesen Beitrag, die überwältigende Mehrheit von ihnen unterstützte die Idee (etwa 90 Prozent waren für den Blackout). Dennoch löste der „straw poll“ eine interne Debatte darüber aus, welche Autorität die Umfrage hat.

Die Befürworter argumentierten mit der starken Beteiligung an der Umfrage. Es habe sich deshalb der Wille der Community manifestiert. Andere kritisierten das Verfahren, da der vermeintliche Konsens erheblich durch die soziale Stellung von Jimmy Wales und seiner Fähigkeit, die Opposition zu marginalisieren, beeinflusst sei.

Am 13. Dezember 2011, kurz nachdem die Probeumfrage endete, wurde eine formelle Diskussion eröffnet (Wikipedia: SOPA_Initiative), bei der nunmehr die Wikimedia Foundation die zentraler Rolle einnahm.

Die vordergründige Funktion der Stiftung war es, die Community mit Informationen zu versorgen. Es sollte um jeden Preis der Eindruck vermieden werden, die Community in ihrer freien Entscheidung beeinflussen zu wollen. Denn die Foundation fürchtete einen „backlash“ (eine heftige Gegenreaktionen) aus der Community. Auch wenn die Stiftung keine formale Autorität über die Entscheidung annehmen wollte, benutzte sie doch ihre Professionalität, um die Diskussion zu lenken.

Die Blackout-Entscheidung

In den darauf folgenden Wochen verstreute sich die Debatte über den SOPA-Blackout zunehmend. Einige Diskussion fanden statt auf der Diskussionsseite der SOPA-Initiative, andere auf Community-Foren. Die Mehrzahl dieser Diskussionen war sehr abstrakt und befasste sich mit komplizierten Details der Gesetzesinitiativen. Obwohl mehrfach Benutzer versuchten, den Prozess voranzutreiben, indem sie konkrete Vorschläge machten, konnte kein Ergebnis erzielt werden.

Einen Monat später zentrierte die Wikimedia Foundation die Debatte neu: Am 13. Januar veröffentlichte die Stiftung eine Anfrage an die Community zu einer endgültigen Entscheidung über den Protest („Call for comment from the community„).

Die Abstimmung wurde entlang einer Liste von knapp formulierten Maßnahmen gebaut („Blackout US only“, „Global blackout and banner“, „Blackout and banner both US only“, „No blackout, global banner“, „No blackout, banner US only“, „No blackout and no banner“). Am 16. Januar 2012, 23.49 Uhr UTC, nach drei Tagen und Hunderten von Stimmen, schlossen drei Wikipedia-Administratoren aus drei Ländern (Vereinigte Staaten, Kanada und Australien) die Diskussion über die Projektseite und präsentierten die Entscheidung der Foundation:

Over the course of the past 72 hours, over 1800 Wikipedians have joined together to discuss proposed actions that the community might wish to take against SOPA and PIPA. This is by far the largest level of participation in a community discussion even seen on Wikipedia, which illustrates the level of concern that Wikipedians feel about this proposed legislation. The overwhelming majority of participants support community action to encourage greater public action in response to these two bills. Of the proposals considered by Wikipedians, those that would result in a “blackout” of the English Wikipedia, in concert with similar blackouts on other websites opposed to SOPA and PIPA, received the strongest support. […] Therefore, on behalf of the English Wikipedia community, the Wikimedia Foundation is asked to allocate resources and assist the community in blacking out the project globally for 24 hours starting at 05:00 UTC on January 18, 2012, or at another time determined by the Wikimedia Foundation. […]

Der englische Wikipedia-Blackout dauerte 24 Stunden, weltweit wurde darüber berichtet. Nach dem Protest kündigten 18 Senatoren an, PIPA nicht mehr zu unterstützen. Am 20. Januar 2012 wurden beide Gesetzesentwürfe gestoppt.

Zusammenfassung und Fazit

Legitimität ist ein wichtiger Faktor für das Verständnis von „Governance“ in offenen Online-Projekten. Das Fehlen einer traditionellen Hierarchie eröffnet einen Raum, in dem neue Formen von Autorität ständig herausgefordert werden.

Der wichtigste Faktor, der den mehrstufigen Prozess bis zum finalen Blackout prägte, war der Wille, die endgültige Entscheidung der Community als legitim zu akzeptieren. Die selbst beschränkende Rhetorik ist in fast allen Aussagen von Jimmy Wales und den Vertretern der Wikimedia Foundation sichtbar.

Das Verständnis der diskursiven Form von Legitimität in Open-Content-Projekten ermöglicht neue Wege zum Verständnis von „Governance“ in offenen Online-Communities. Durch die Diskussion über und den Umgang mit Legitimität wurde dem Begriff Legitimität ein neuer Sinngehalt gegeben. Sichtbar wurde eine Form sozialer Organisation, die in ihrem Umfang bisher kaum vorstellbar war: Eine bislang unerreicht große Anzahl von Individuen bündelte ihre Kräfte, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.

Die Geschichte vom Wikipedia-Blackout zeigt, dass die Macht offener Online-Communities viel größer ist als das ihre anarchistische Grundidee („geregelte Anarchie„) vermuten lässt. Offene Communities stärken ihre Ideologie, indem sie sie zeitweise außer Kraft setzen. Sie stärken ihre Legitimation durch die Erweiterung ihrer Bedeutung. Sie untergraben ihre anarchistischen Werte, indem sie das Charisma und die Professionalität ihrer „Anführer“ nutzen.

Am Ende zählt die Unterstützung der Community, um diesen nicht-legitimen Prozess schließlich doch zu legitimieren. Dadurch ermöglichen diese „unvollkommenen Ad-hoc-Mechanismen“ große Kooperationsprojekte.

Dabei muss nicht auf eine Top-down-Hierarchie klassischer Organisationen zurückgegriffen werden. Reine Anarchie mag anders aussehen. Dennoch: Der Wikipedia-Blackout hat uns vor Augen geführt, was ein effektives basispolitisches Handeln und neue Formen politischen Engagements im Internet heute bewirken können. Das ist ein wichtiger Quantensprung der Selbstregulierung sozialer Communities.

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2 Antworten zu Der Blackout von Wikipedia – Analyse eines virtuellen Protests

  1. Der Skeptiker sagt:

    Ihr Fazit widerspricht Ihrer Analyse. Mit Jimmy Wales als Initiator kann man es kaum mehr als Graswurzelbewegung bezeichnen. Es war auch weit weg von Demokratie und Transparenz. Zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Blackout gab es in der dt. Wikipedia keine Artikel über SOPA und PIPA, die den Namen verdient hätten, in der englischen war es kaum besser. Es wusste also niemand, worüber er abstimmt.

  2. C. L. sagt:

    Wikipedia war immer politisch, verneint aber bestimmte Demokratitechniken, weshalb sie keiner etablierten Partei wirklich nahe stehen kann, sondern steht den eher den Piraten nah. Es gibt immer wieder Projekte, die ohne einen politischen Standpunkt, ohne der Meinung unterworfene Polarisierung nicht möglich sind.

    Aktuell:

    Wahlprüfsteine

    * Wahlprüfsteine

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