„Gerecht ist nur die Freiheit“, titelte im Jahr 2003 einmal die Hamburger Wochenzeitung Zeit und brachte ein ausführliches Stück über den Manchester-Liberalismus, jene Strömung wirtschaftsliberaler Denker im 19. Jahrhundert, die seither im Verdacht steht, radikale Marktfreiheit propagiert und dem Turbo-Kapitalismus den Weg geebnet zu haben. Es sollte eine Ehrenrettung sein. „Wie allen echten Liberalen lag ihnen die soziale Gerechtigkeit sehr am Herzen, doch definierten sie sie anders als sozialistische oder religös motivierte Gesellschaftstheoretiker: Nicht soziale Ungleichheit war in ihren Augen ungerecht. Ungerecht sei vielmehr, wenn bestimmte Gruppen der Gesellschaft von der Möglichkeit des sozialen Aufstiegs ausgeschlossen werden“, schrieb Zeit-Autor Richard Herzinger.
Globalisierungskritiker etwa von Attac könnten sich heute, so der Artikel weiter, ein Vorbild nehmen am Manchester-Liberalismus. Schließlich seien es „hauptsächlich protektionistische Maßnahmen der reichen Industrienationen wie Schutzzölle oder Subventionen für die eigene Industrie und Landwirtschaft, die die ärmeren und ärmsten Länder – die so genannte Dritte Welt – um einen fairen Anteil am Welthandel bringen.“ Die Manchester-Liberalen hingegen seien vom Freihandel zutiefst überzeugt gewesen – als einzige Chance weniger entwickelter Länder zu Wohlstand und sozialer Stabilität.
Die Zeit-Geschichte ist ein provokativer Text gegen eine gängige Auffassung, die Manchester-Liberalismus allein mit den „Bilder von verelendeten Arbeitermassen und ausgemergelten Kindern“ verbindet (Herzinger).
Führte die massive Propagierung des freien Handels zu mehr oder weniger Armut? Wie sehr sind heutige Volkswirtschaften allein geprägt von der Idee des laissez-faire, des freien Spiels der Marktkräfte? Dieser ideologisch aufgeladene Meinungskampf, geführt seit zwei Jahrhunderten, entlädt sich derzeit in der diskussionsfreudigsten aller Enzyklopädien. 16 Druckseiten füllt allein die seit dem 25. April 2011 neu entflammte Debatte auf der Diskussionsseite zum Wikipedia-Eintrag „Manchesterliberalismus“. Mit 28 Reverts in den vergangenen drei Wochen ist es einer der intensivsten Edit Wars der letzten Zeit. Einmal war der Eintrag zwischenzeitlich gesperrt. Zwar ist die sonstige Wiki-Watch-Bewertung durchaus gut – 62 Autoren haben den Artikel in 280 Bearbeitungen, unterlegt mit 43 Quellen – erstellt, doch jetzt ist etwa die Hälfte des Eintrags hoch umstritten, wie das „WikiTrust“-Tool in Wiki-Watch zeigt.
Zunächst dreht sich der Streit um Quellen. Denn schon die sind selten neutral. Ihre Auswahl und mehr noch ihre Interpretation ist Ausdruck von Denkrichtungen und Auffassungen. Was als nüchtern-sachliche enzyklopädische Detailarbeit durch Quellenangaben und Fußnoten daherkommt, ist Teil und Mittel der ideologischen Debatte.
So streiten die Wikipedianer, wie auf der Diskussionsseite ausführlich nachzulesen ist, intensiv darum, ob sie vorrangig auf gängige Wirtschaftslexika (eher neutral) oder auf spezifische wirtschaftsgeschichtliche Fachliteratur (die sich kontroverser mit den Strömungen des Wirtschaftsliberalismus auseinandersetzt) zurückgreifen sollen. Vor allem geht es um Belege für die Aussage, ob die „Manchester-Liberalen eine noch extremere ‚laissez-faire‘-Position als die klassischen Wirtschaftsliberalen“ einnahmen und ob dies dem Standardwerk des österreichischen Nationalökonomen und Wirtschafts-Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek („Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung“) zu entnehmen ist. Sodann dreht sich der Streit darum, ob eine Schrift der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung zum Thema, die laut dem streitlustigen Editor Pass3456 angeblich ohne Fußnoten verfasst ist, eine taugliche Quelle sein kann. „Was nicht deinem Weltbild entspricht, ist also gelogen“, hält der Autor Mr. Mustard sogleich dagegen, der ebenfalls intensiv in der Kontroverse aktiv ist.
Besonders strittig ist auch, ob die Bezeichnung „Manchester-Liberalismus“ eine Eigenbezeichnung der Vertreter dieser Strömung war oder eine Fremdzuscheibung. Es geht darum, welchen ideologischen Kern die wirtschaftsliberalen Denker teilten, und was in den folgenden Jahrzehnten durch Interpretation und Kritik hinzutrat, im Kern also darum, ob es sich um eine nüchtern zu interpretierende Beschreibung einer bestimmten Gruppe (der sog. Anti-Corn Law League) handelt oder um einen „Kampfbegriff gegen Liberale“ (so Pass3456 in der Diskussion).
In der Debatte zeigt sich der Charme manches Wikipedianers. „Wenn ich nicht wüsste, dass dieses Verhalten einzig dadurch bedingt ist, dass du überhaupt nicht in der Lage bist, zu verstehen, worum es hier geht, würde ich sagen, dass du der unredlichste Mensch bist, der mit bekannt ist“, hält etwa Mr. Mustard dem revertierenden Autor FelMol vor, der zuvor kundgetan hatte: „Dein ideologischer Neusprech ist zur Genüge bekannt. Orwell lässt grüßen.“ Nicht freundlicher geht es in der weiteren Diskussion um die „sozial abschätzige“ Bedeutung der Bezeichnung des „Manchester-Liberalismus“ zu. Natürlich handelt es sich nicht um einen an sich „sozial abschätzigen“ Begriff, sondern eine „sozial abschätzige“ Konnotation desselben.
Immerhin: Die Einleitung des Wikipedia-Eintrags schafft es nun, nach langer Diskussion und 28 Reverts, beinahe alle Begriffe zu berücksichtigen und in einer beeindruckenden Weise aneinanderzureihen:
„Der Ausdruck Manchesterliberalismus bezeichnet heute vielfach eine Politik, die mehr noch als die heutigen „klassischen Liberalen“ (classical liberals) so weit wie möglich auf den Markt vertraut[3] und bezeichnet daher eine Extremform des wirtschaftlichen Liberalismus.[4] Seit dem 19. Jahrhundert wird er von Konservativen und Sozialdemokraten als Kampfbegriff gegen ihre liberalen Gegner benutzt.[5]„
Auch damit ist nicht jeder der zankenden Wikipedianer glücklich: „Ein bis zur lächerlichen Verharmlosung reduziertes Lemma“ heißt der neueste Thread der Diskussion. Inhalt: Beschimpfungen und Drohungen.