Wikipedia im Visier von Staaten und Unternehmen – Wächterprogramme sollen Manipulationen erschweren

Der Abschuss des malaysischen Linienflugs MH17 in der Ost-Ukraine hat vor Augen geführt, dass im Onlinelexikon Wikipedia ein Kampf um die Wahrheit im Internet tobt. Nach Recherchen des Schweizer Journalisten Jürg Vollmer soll von einem Computer des russischen Sicherheitsdienstes FSO aus der deutschsprachige MH17-Eintrag manipuliert worden sein. Andere Quellen berichten von manipulativen Änderungen an der russischsprachigen Wikipedia zum Crash von Flug MH17. Aber nicht nur Russland ändert Beiträge bei Wikipedia.

So dreist fälschen Putins Männer die Wikipedia“ (bild.de vom 31.07.2014)

Nicht jede Zeitung hat es so brachial wie BILD auf den Punkt gebracht. Im Kern waren sich die Medien allerdings einig: „Russland manipuliert Wikipedia“. In dem Artikel, der sich mit dem Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugs 17 beschäftigt, wurden Änderungen offenbar direkt aus dem Büro des russischen Sicherheitsdienstes FSO vorgenommen. Darauf deutet zumindest die Whois-Abfrage hin, in der selbst der Name des Mitarbeiters (Andrey V. Sosov) und die zuständige Abteilung nachzulesen sind.

Beeinflussen Putin-Trolle Wikipedia?

Der Versionsunterschied vom 29. Juli 2014 zeigt, wie der Mitarbeiter des 1881 gegründeten Bewachungsdienstes aus „Separatisten“ die Bezeichnungen „Aufständische“ bzw. „Rebellen“ machte, und die Anführungszeichen bei „Volksrepublik Donezk“ entfernte.

Auch bei der russischsprachigen Wikipedia waren Vandalen am Werk. Nach Berichten mehrerer Medien, die sich auf die britische Nachrichtenseite The Telegraph als Quelle beziehen, soll ein anonymer Nutzer von einem Rechner aus dem Netzwerk der staatlich kontrollierten russischen Medienholding WGTRK versucht haben, einen Abschnitt zur Absturzursache umzuschreiben.

Ursprünglich habe in dem Eintrag gestanden, dass das Flugzeug von Terroristen der abtrünnigen Volksrepublik Donezk mithilfe eines Buk-Raketensystems abgeschossen worden sei, welches die Terroristen von der Russischen Föderation erhalten haben sollen. In der geänderten Fassung hieß es dann laut einem Bericht von Spiegel Online: „Das Flugzeug wurde vom ukrainischen Militär abgeschossen.“ Aufgeflogen ist die Änderung dank des Wächterprogramms @RuGovEdits, das die Manipulation automatisch auf Twitter meldete.

Wer auch immer diese Änderungen veranlasst hat, fest steht: Nicht nur von Moskau aus werden Information geändert. Auch Behörden anderer Staaten und Unternehmen nehmen Einfluss auf die „freie Enzyklopädie“.

Eine IP-Adresse von einem Computer des russischen Sicherheitsdienstes änderte den Wikipedia-Artikel über den Abschuss der MH17

Knapp 7.000 Manipulationen aus dem Umfeld des Kreml hat der norwegische Programmierer Jari Bakken auf seiner Website zusammengefasst. Edits von Behörden aus Österreich, Australien, Kanada sind ebenso zu finden, wie regelmäßige anonyme Änderungen an Wikipedia-Artikeln aus Washington, Brüssel und Berlin. Die NATO und das Pentagon und Unternehmen wie Goldman Sachs, Monsanto mischen ebenfalls mit. Selbst die UNO taucht in der Liste auf.

Twitter-Bots melden Manipulationen

Twitter-Bots sollen solche Manipulationen deutlich erschweren. Immer dann, wenn jemand mit einer IP-Adresse aus den entsprechenden Behörden oder Unternehmen einen Artikel auf Wikipedia ändert, meldet der jeweilige Wächter die Veränderung auf dem Mikroblogging-Dienst Twitter.

Der Account @congressedits meldet automatisiert alle Änderungen, die über eine IP-Adresse des US-Kongresses vorgenommen werden. Der Wächter hat schnell Nachahmer gefunden. @RuGovEdits nimmt sich russische Behörden vor. @bundesedit nimmt Änderungen aus Bundestag, Bundesministerien, Bundesämtern und anderen Bundeseinrichtungen unter die Lupe.

Nicht zu vergessen sind @euroedit, @natoedits, @pentagonedits und @un_edits, die Änderungen melden, die aus dem Europäischen Parlament und anderen EU-Institutionen, aus dem NATO-, Pentagon- bzw. UNO-Netzwerk stammen.

Andere Accounts – @oiledits für ausgewählte Ölfirmen, @monsantoedits für den Saatgut -und Herbizidproduzenten Monsanto und @phrmaedits für Mitglieder des US-Pharma-Verbands PhRMA – prüfen, ob diese Unternehmen versuchen, anonym Einträge bei Wikipedia zu ändern.

Skandale, wenigstens Skandälchen?

„Zum einen wollen wir natürlich dem Staat und seinen Vertretern deutlich machen, dass nicht nur sie uns als Bürger in jeder Lebenslage beobachten können, sondern – auch wenn nur in einem sehr begrenzten Maße – dies auch umgekehrt möglich ist. Wir wollen ein Schild hoch halten: ‚Wir können auch hinschauen!'“ (bundesedit.de, Auszug aus den FAQs)

Die Idee, per Tweet-Bot mehr Transparenz in Wikipedia herzustellen, ist klasse. Regierungspropaganda konnten die deutschen Versionen der Netzwächter bisher aber noch nicht aufdecken. Auffällig ist allein ein Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums, der schon dutzende Artikel auf Rechtschreibfehler überprüft hat, was die Betreiber von Euroedit dazu zwang, einen Filter einzubauen, damit marginale Änderungen nicht mehr veröffentlicht werden.

Kurioses ist aus dem Netz des US-Kongresses bekannt: Laut BBC soll im Juli eine IP-Adresse aus dem Kapitol in Washington den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zu einem „alien lizard who eats Mexican babies“ („mutiertes Reptil, das mexikanische Neugeborene frisst“) gemacht haben. Die Verschwörungstheorien rund um die Mondlandung beruhten auf einmal auf Aussagen der Regierung Kubas. Wikipedia-Mitbegründer Jimmy Wales vermutet, dass sich ein Mitarbeiter aus dem US-Kongress einen Spaß gemacht habe und darauf hoffte, dass die Bots den Schabernack auf Twitter verbreiten.

Den Administratoren der englischen Wikipedia gingen die Späße aus dem Kongress irgendwann zu weit. Wegen des störenden Editierens (engl. „Disruptive editing„) wurde die IP-Adresse 143.231.249.138 für zehn Tage gesperrt, berichtet Ars Technica.

„Einige von uns hier machen nur grammatikalische Änderungen oder fügen Informationen zu den Vögeln in Omsk hinzu (…).“ (Ein Mitarbeiter beschwert sich auf der Benutzerseite über die Sperrung der IP-Adresse des US-Kongresses.)

Echte Skandale sucht man vergeblich. Die Wächterprogramme fördern fast immer Belanglosigkeiten zutage. Offenbar korrigieren Mitarbeiter von Bundes- und Landeseinrichtungen sowie aus Europäischen Institutionen gezielt Artikel, die zu ihren Fachgebieten gehören. In vielen Fällen sind die Änderungen sogar sinnvoll und verbessern die Qualität der jeweiligen Artikel.

Die Macher von @euroedit sind sich dessen bewusst. Sie betonen, dass es ihnen nicht darum gehe, Skandale aufzudecken. „Wir sind nur Techies„, heißt es auf der Homepage. Die Interpretation und Aufbereitung der gesammelten Informationen wird den Profis aus Wissenschaft und Journalismus überlassen.

Alles andere als perfekt

“Transparenz per Tweet-Bot hilft nur gegen die wirklich dummen Wikipedia-Manipulatoren” (Michael Schmalenstroer auf seinem Blog schmalenstroer.net über Euroedit)

Die Tweet-Bots sind – und das wissen auch die Programmierer und Betreiber der Wächter-Accounts – „alles andere als perfekt„. Denn sie kontrollieren nur Änderungen von nicht angemeldeten Benutzern, deren Beiträge in der Versionsgeschichte unter der IP-Adresse erscheinen, die ihnen bei der Einwahl ins Internet zugewiesen wird.

Es ist aber auch möglich, sich mit Pseudonym bei Wikipedia anzumelden und Artikel zu ändern – in diesem Fall wird die IP-Adresse nicht aufgeführt. Editiert also ein Politiker oder ein Unternehmen als registrierter oder angemeldeter Benutzer, fällt das den Transparenz-Wächtern nicht auf.

„Ein oder gleich mehrere Accounts sind schnell erstellt und dürften bei regelmäßigen Wikipedia-Autoren schon alleine aufgrund der Komfortfunktionen wie der Beobachtungsliste weit verbreitet sein. Zahlen dazu gibt es keine – Wikipedia-Administratoren können herausfinden, von welchen IPs ein Benutzer editiert, der normale Nutzer nicht.“ (Michael Schmalenstroer auf seinem Blog schmalenstroer.net über Euroedit)

Wer Artikel bei Wikipedia manipulieren will, geht sowieso anders vor. Um unentdeckt zu bleiben, können Änderungen von gleich mehreren heimischen Rechnern vorgenommen werden. Werden dann auch noch DSL-Anschlüsse von unterschiedlichen Providern genutzt, ist es nahezu unmöglich, Manipulationen aufzudecken. Mit ein bisschen technischem Geschick lassen sich IP-Adressen sogar verschleiern.

Wer sich nicht selbst die Finger schmutzig machen will, kauft sich die Manipulation als Dienstleistung ein: Die Internetzeitung Daily Dot berichtete im Oktober 2013 von einem riesigen Sockenpuppen-Netzwerk, das sich im Auftrag von Unternehmen und Einzelpersonen fürs Frisieren von Wikipedia-Artikel bezahlt ließ.

Warum Euroedit & Co dennoch sinnvoll sind

Kein Frage, Wächterprogramme wie Euroedit lassen sich leicht aushebeln. Andererseits hat das Projekt – das zeigt die Resonanz auf Twitter und in den Medien – für das Thema Regierungspropaganda und Manipulationen auf Wikipedia sensibilisiert. Insbesondere Journalisten, die Wikipedia als Quelle benutzen, sollten zumindest ihre Aufmerksamkeit mehr auf die Versionsgeschichte von Artikeln lenken, das betonen auch die Macher des Projekts. Wer steckt dahinter? Diese Frage sollte sich jeder stellen, bevor er Informationen des Onlinelexikons verwendet.

freie Enzyklopädie
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

1 Antwort zu Wikipedia im Visier von Staaten und Unternehmen – Wächterprogramme sollen Manipulationen erschweren

  1. Alfons Knak-Hermanns sagt:

    Sehr geehrter „Falke“!
    Als wiki-editor danke ich für den arbeitsintensiven Artikel mit gewichtiger Information.
    Mit bestem Gruß
    (Name in der Stern-Zeile)

Kommentare sind geschlossen.