Welterbe Wikipedia: „Der Kölner Dom des Internet?“


704 Kulturdenkmäler auf der ganzen Welt sind Unesco-Welterbe. So bedeutende historische Stätten wie die Chinesische Mauer und die Akropolis zählen dazu, aber auch die Essener Zeche Zollverein als Ort des Umbruchs von Kohle zu Kultur. Es sind reale Orte, an die Millionen Menschen pilgern. Viele haben die Geschichte geprägt.

Wikipedia ist ein digitaler Raum. Die Onlineenzyklopädie ist die größte Wissenssammlung der Geschichte. Auch Wikipedia ist eine Pilgerstätte für Millionen Menschen. Gestern wurde allein die deutschsprachige Version 27,45 Millionen mal genutzt.

Ist Wikipedia deshalb ein Kulturgut, das es als Unesco-Welterbe zu schützen gilt? Manche Wikipedianer, angestoßen vom deutschen Wikimedia-Verein, unterstützt von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales, möchten, dass Wikipedia auf die Welterbe-Liste aufgenommen wird. Wales spricht von einer „wirklich verrückten, großartigen Idee“. Wikipedia markiere in Wahrheit einen kulturellen Wandel, eine kulturelle Errungenschaft, keine Technologie, sagt er. So sehen die Initiatoren Wikipedia als „Meisterwerk der menschlichen Schöpferkraft“ und mithin Punkt 1 der Unesco-Richtlinien erfüllt. „Wir wollen in die Welterbe-Bundesliga“, sagt Wikimedia Deutschland-Geschäftsführer Pavel Richter, nachzulesen in der Zeit. Eine Aufnahme in die Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit, die etwa „den Tenor-Gesang sardischer Schäfer oder das japanische Kabukitheater“ (Zeit), bisher aber auch keine digitalen Orte schützt, genügt den Wikipedianern nicht, ebenso wenig wie die Liste des Weltdokumentenerbes, welches das „Gedächtnis der Welt“ schützen soll und so durchaus für Wikipedia passen könnte.

Die Initiatoren stützen sich vielmehr auf die Welterbekonvention und schreiben im Wikimedia-Blog:

„Als (die Konvention) 1972 ausgehandelt wurde, war an von Menschenhand geschaffene digitale Stätten noch nicht wirklich zu denken (…). Wikipedia und das dahinter stehende Prinzip ist das Beispiel, wie das Internet Menschen dabei unterstützt, erstmals massenhaft weltweit gemeinsam zusammenzuarbeiten, um das Wissen der Menschheit der ganzen Menschheit zur Verfügung zu stellen und damit ein schützenswertes ‚Werk von Menschenhand‘ zu schaffen. Es geht nicht darum, die Software, einzelne Artikel oder einen Stand der Artikelsammlung unter den Schutz des Welterbe-Status zu stellen. Es geht um das Prinzip des gemeinsamen Sammelns und Verbreitens Freien Wissens, unter Freien Lizenzen, die jedem die Nutzung erlaubt und ermöglicht.“

Die PR-Maschine rollt. In den vergangenen Wochen erreichte die Initiative des Wikimedia-Vereins ein großes Presse-Echo, nachdem sie u.a. bei der großen Webkonferenz re:publica im April in Berlin und bei diversen Wikipedia-Veranstaltungen vorgestellt wurde. Die Reaktionen sind teils verwundert, teils belustigt, teils fast euphorisch zustimmend. „Wikipedia muss Weltkulturerbe werden“, schrieb Markus Beckedahl von netzpolitik.org im Tagesspiegel. Die Enzyklopädie sei Ausdruck des digitalen Wandels. Die Anerkennung dieser neuen Kultur der Zusammenarbeit biete die Chance zu einer neuen Diskussion über den Kulturbegriff. Und: Wer wisse heute schon, was die Unesco sei, fragt er. Wikipedia kenne jeder – „durch die Anerkennung als Weltkulturerbe würden beide Seiten profitieren.“ Die Zeit argumentiert ähnlich. „Auch digitale Kultur ist Kultur“ schreibt sie, die Debatte sei längst überfällig. Der drei- bis vierjährige Bewerbungsprozess böte dazu viel Raum.

Das Welterbe-Projekt stößt an viele Grenzen. So muss ein Staat Kandidaten für die Welterbe-Liste vorschlagen. In diesem Fall müsste sich wohl die Bundesregierung, oder aber eine Regierung eines anderen Staates – etwa der USA, wo Wikipedia gehostet wird – dafür begeistern lassen. Die digitale Petition der Wikipedia ist daher nicht mehr als ein Stimmungsbild. Bemerkenswert übrigens: Bisher sind 38 Wikipedianer für die Initiative, 58 dagegen, sechs sind unentschieden. Da die Hürden so hoch sind, das Verfahren so aufwendig, die Kriterien so ungeeignet für digitale Orte, betonen die Unterstützer gleich das Besondere an der Wikipedia-Initiative. So zitiert die Zeit Linus Neumann von der Initiative Digitale Gesellschaft: „Die Wikipedia wäre das erste Werk, das von unten kommt.“ Der Tenor: Frühere Welterbe-Stätten sind eher von Potentaten geschaffen worden als von Menschen, Wikipedia aber ist Gemeingut. Das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung von diesem Montag merkt dazu an, solche Aussagen ließen die Wikipedia-Bewerbung geradezu als „zwingenden Akt der demokratischen Emanzipation“ erscheinen. Der Tagesspiegel schreibt: „Wikipedia ist der Kölner Dom des Internet, sozusagen.“

Welche Fragen prägen also diese Debatte? Es ist diejenige nach freiem Wissen als Kulturgut, nach Wissen als dem Volkseigentum des Internet-Zeitalters. Es geht aber auch um politische Ziele: Wikipedia nicht als Erbe, sondern als Gut der Zukunft zu schützen. Doch was bedeutet der Schutz durch die Unesco? Und vor allem: Gibt es mehr Freiheit durch, aber auch eine Unabhängigkeit von der Unesco? Kann Wikipedia, wenn sie unter dem Welterbe-Schutz steht, schwieriger zensiert werden von Staaten wie China oder Iran? Werden etwa amerikanische und europäische Internetunternehmen stärker geächtet, wenn sie Technologien entwickeln, die die Zensur von Wikipedia ermöglichen? Können, so das „Feedback aus Bangalore“ in der Debatte, Schulen schwieriger begründen, warum sie Wikipedia-Zugriff verweigern, oder die Nutzung der Online-Enzyklopädie als Quelle?

Verleiht der Welterbe-Titel der Wikipedia den weltpolitischen Ritterschlag der realen Welt für eines der größten Projekte der digitalen Welt? Möchte die Netzgemeinde das? Jene Generation, die sich oft auf Unabhängigkeit und Abgrenzung von den Strukturen der alten analogen Welt beruft? Jene Nutzer, die im Internet das Beispiel einer freieren weltweiten Kommunikation sehen, und jene Aktivisten, die mit den Prinzipien des Netzes die althergebrachten Institutionen eher verändern wollen, als dass sie sich gerne von ihnen umschmeicheln lassen?

In der Wikipedia findet sich gesammeltes Wissen. Wikipedia gibt wieder, was schon erdacht, geschrieben, gesendet wurde. Wikipedia steht für eine vernetzte Welt, für Schwarmintelligenz, für „das gute Internet“ (Wikimedia-Geschäftsführer Pavel Richter). Wikipedia ist ein sehr realer Ort in der digitalen Welt. Menschlich sind die Fehler in manchen Beiträgen, menschlich die Debatten. Nach außen ist die Wikipedia stark, innen hat sie einen konfliktreichen Kern. Laut SZ bezeichneten Wikipedianer jüngst bei einer Diskussion in Berlin das Postulat der Offenheit für jeden Autor als „sozialromantischen Unsinn“. Diese gebe es schon lange nicht mehr. Wiki-Watch berichtete über die aktuellen Studien zum Autorenschwund. Unter den Wikipedianern ist dies das wichtigste Thema.

Die Welterbe-Diskussion wird von den Wikipedianern kontrovers und bisher eher ablehnend, bisweilen aggressiv geführt. So ist die Debatte um den Welterbe-Titel auch ein Spiegelbild der aktuellen deutschsprachigen Wikipedia. Zu Recht erreicht die Online-Enzyklopädie eine gewaltige Außenwirkung. Sie ist eines der ambitioniertesten und spannendsten Kulturprojekte der Geschichte. Aber ihre inneren Probleme sind gewaltig. Der Tagesspiegel schreibt, bei dem vielen Streit zwischen Exklusionisten und Inklusionisten, um Löschen oder Behalten strittiger Textpassagen, komme „eine kuschelige Weltkulturerbe-Debatte gerade recht“. Und der Freitag betont, in Wirklichkeit sei die Initiative vor allem ein Werbegag um Wikipedia stärker ins Gedächtnis zu rufen. Dem Lexikon gingen die Autoren aus, auch die Spenden könnten zunehmen. Das Weltkulturerbe, so die Zeitung, habe Wikipedia vielleicht nicht verdient, Autoren und Geld aber schon.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Exklusiver Einblick, Relevanz abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.