Wikimedia Deutschland steckt in der Krise

Nach fünf Jahren trennt sich der #Wikipedia-Förderverein Wikimedia Deutschland (WMDE) von seinem Geschäftsführer Pavel Richter. Die Rede ist von einer „einvernehmlichen Trennung“. Doch hinter den Kulissen brodelt’s. Die Trennung von Pavel Richter offenbart eine tief sitzende Krise.

Was ist eigentlich los bei WMDE? Am 19. Mai 2014 kündigte Nikolas Becker im Namen des Präsidiums die Trennung des Vereins von Pavel Richter an.

„Der Verein und Pavel Richter haben sich geeinigt, dass eine einvernehmliche Trennung erfolgt und Gespräche über die Modalitäten einer gütlichen Einigung stattfinden.“

Am selben Tag, nur wenige Minuten später, distanzierte sich Becker, zu diesem Zeitpunkt noch Vorsitzender des Präsidiums, von dieser Entscheidung und sprach offen von einem „falschen Schritt“ für den Verein und über eine „Art und Weise„, die ihn „zutiefst besorgt„.

„Ich bin mir sicher, dass die bestehenden Differenzen auch auf weniger invasive Art hätten gelöst werden können und vertraue darauf, dass unser Vorstand auch die weitere Entwicklung des Vereins hätte gut begleiten können.“

Die Absetzung von Pavel Richter kommt einer Palastrevolte gleich: Neun von zehn Mitgliedern stimmten gegen den langjährigen Geschäftsführer von WMDE. Das Präsidium begründete seine Entscheidung zunächst mit der neuen strategischen Ausrichtung des Vereins, die sich mit Richter nicht umsetzen lasse.

Viele offene Fragen

Was unterscheidet die neue Strategie von der bisherigen so sehr, dass es eines solchen  drastischen Schrittes bedurfte? Warum wird beschlossen den Vorstand abzulösen, obwohl die Mitgliederversammlung dieser neuen Strategie bis dahin überhaupt noch nicht zugestimmt hatte? Worin unterscheiden sich die Standpunkte des Präsidiums und des Vorstandes bezüglich der neuen Strategie? Warum wurden die Mitglieder nicht früher über diese Dinge informiert?

„Hallo,  könnte man mal etwas konkreter werden und darlegen was überhaupt los ist.  Ich erfahre hier erstmals, dass eine komplett neue strategische Ausrichtung erfolgen soll und deshalb der bisherige Vorstand abgelöst werden soll.“

Nicht nur Vereinsmitglied Michail, von dem obiges Zitat stammt, ist über das Vorgehen des Präsidiums schwer verwundert. Auch hohe Funktionsträger des Vereins, unter ihnen ehemalige Mitbegründer von WMDE, sind zutiefst irritiert.

„Wenn es hier gravierende Differenzen geben sollte, dann würden wir als Mitglieder gerne mehr darüber erfahren. (…) Eine derart weitreichende Entscheidung wie die Abberufung des Vorstands sollte sehr sorgfältig überlegt sein.“

In ihrer Mail an alle Mitglieder machen sie deutlich, dass sie die Abberufung absolut unangebracht finden und nicht ansatzweise verstehen können. Es fehle nicht nur an einer überzeugenden Begründung für eine Abberufung, es gäbe offenbar auch keine ausreichend konkreten Vorstellungen für die Zeit nach einer solchen Entscheidung. Durch eine überhastete Abberufung könne dem Verein und den von ihm geförderten Projekten ein immenser Schaden entstehen, so die Unterzeichner des Briefes.

Kein Plan

Auf der 14. Mitgliederversammlung von Wikimedia Deutschland in Frankfurt am Main zeigte sich, dass sich das Präsidium über die Zeit nach Pavel Richter bisher noch wenig Gedanken gemacht hat. Weder der Ablauf noch ein genauer Zeitplan stehen fest.

Man wolle sich „zuerst gemeinsam über den Ablauf und den genauen Zeitplan beratschlagen“. Über konkrete Schritte werde man „kurzfristig und so schnell wie möglich berichten“, kündigte der neue Vorsitzende Tim Moritz Hector auf dem Vereins-Blog an.

Klar ist jetzt schon, dass gleich zwei Präsidiumsmitglieder diese Übergangsphase nicht begleiten werden. Nikolas Becker, der im letzten halben Jahr den Vorsitz des Präsidiums innehatte, und Robin Tech haben überraschend ihren Hut genommen. Tech begründet seinen Rücktritt mit einem unerwartet aggressiven Arbeitsklima, das geprägt sei von persönlichen Anfeindungen gegen „Andersdenkende“.

“Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen in diversen Vereinen und Gremien habe ich eine vollkommen andere Art der Kommunikation und Arbeit erwartet. Bereits seit der ersten Sitzung musste ich jedoch eine Aggressivität wahrnehmen, die ich so noch nicht erlebte und die sich mir bis zum Ende schlicht nicht erschloss. Die insbesondere von einzelnen Mitgliedern praktizierte maximal persönliche Anfeindung ihrer andersdenkenden ‘Kollegen’ hat mich jedes Mal aufs Neue negativ überrascht (…)”

Vorgeschobene Begründung

Kaum zu glauben, dass solche Zustände herrschen im Präsidium eines Vereins mit über 6.500 Mitgliedern, in dessen Berliner Geschäftsstelle mittlerweile etwa 66 Mitarbeiter arbeiten.

Was steckt wirklich hinter der Absetzung von Pavel Richter? Die neue strategische Ausrichtung? Das ist eher unwahrscheinlich, denn inhaltlich unterscheidet sie sich kaum von den bisherigen Zielen. „Zumindest ist kein Unterschied erkennbar, der so wesentlich ist, dass er als nachvollziehbare Begründung für eine Unvereinbarkeit zwischen Präsidium und Vorstand herhalten kann„, schreibt Vereinsmitglied Sebastian.

Dass die vorgeschobene Begründung in der am Anfang des Beitrags erwähnten Erklärung vom 19. Mai 2014 nicht durchgreift, hat auch das Präsidium erkannt. In einem am 22. Mai 2014 veröffentlichten offenen Brief rudert das Kontrollorgan des Vereins eilig zurück. Zur Trennung von Pavel Richter heißt es nun:

„Unsere Differenzen mit dem Vorstand liegen nicht in den strategischen Zielen. Wir haben unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Schwerpunkte bei ihrer Umsetzung gesetzt werden sollten.“

Präsidium und Vorstand seien sich uneins bei der strategischen Führung und Weiterentwicklung des Vereins im Allgemeinen. „Unüberbrückbare Differenzen bezüglich der Erwartungen und der Form unserer Zusammenarbeit“ seien der Grund für die Trennung gewesen. Man lege aber großen Wert auf eine geordnete Übergabe, für die ausreichend Zeit eingeplant worden sei:

„Unsere Vereinbarung mit Pavel Richter sieht vor, dass die Zusammenarbeit in beiderseitigem Einverständnis noch mehrere Monate fortgesetzt werden kann, wenn eine stabile Vereinsarbeit das erfordert.“

Hau-Ruck-Aktion? Davon will man im Präsidium nichts hören. Die Entscheidung sei keineswegs überstürzt oder leichtfertig getroffen worden: Sie sei vielmehr das Ergebnis eines langen Prozesses, der schon bis in die Amtszeit des vorherigen Präsidiums zurückreiche, so Sebastian Wallroth in Namen des Gremiums.

„Diese Differenzen haben sich über einen längeren Zeitraum herauskristallisiert und immer weiter verstärkt – obwohl wir sie bei intensiven Diskussionen innerhalb des Präsidiums und mit dem Vorstand wiederholt thematisiert haben.“

„Unprofessioneller, undurchdachter Spuk“

Vereinsmitglied Sebastian nennt die Causa Richter in seiner E-Mail an das Präsidiumsmitglied Steffen Prößdorf treffend einen „unprofessionellen, undurchdachten Spuk“.

„Ihr habt euch anscheinend zum Ziel gesetzt, den Vorstand kurzfristig auszuwechseln. Dabei seid ihr anscheinend überzeugt davon, dass ihr ohne Angabe von nachvollziehbaren Gründen, ohne vorherige Zustimmung der Mitglieder zur neuen Strategie, ohne klare Einigung zu Zeitplan und Modalitäten und mit Art als auch Inhalt der Verkündung zu diesem Zeitpunkt dieses Ziel erreichen könnt.“

Es sei noch nicht einmal klar, ob die Abstimmung zur vorzeitigen Beendigung der Vorstandsbestellung ordnungsgemäß abgelaufen ist: „Nach dem, was ich über die Sitzung gehört habe, ging sie bis in die Abendstunden und war am Ende gar nicht mehr vollzählig besetzt.„, mutmaßt Vereinsmitglied Sebastian.

Nicht nur Vorstand und Präsidium, sondern auch das Präsidium selbst scheint innerlich zerrissen und geprägt von gegenseitigem Misstrauen. Ein User auf heise.de, der über Insiderwissen zu verfügen scheint, schreibt zum Rücktritt des Präsidiumsvorsitzenden Nikolas Becker:

„Wenn jegliche interne Kommunikation des gewählten Präsidiums schon Tage zuvor auf dem Tisch vom Vorstand gelandet ist, das ist wahrscheinlich ihm zuzuordnen. Er hat aber auch ganz klar erkannt, wer sein wahrer Chef ist. Nämlich Pavel Richter. (…) Wenn man solche Leute im Präsidium eines Vereines hat, dann kann man gleich jegliches private Gespräch aufzeichnen und weitergeben.“

Kritik aus der Community

Auch in der Community der freiwilligen Autoren ist die Kritik unüberhörbar. „Gruseliges, unverständliches Verfahren. Nicht, dass ich ein großer Freund Pavels wäre, aber der Vorgang ist mindestens merkwürdig.„, schreibt etwa Smial. Andere machen auf die schwierige Suche nach einem Nachfolger/einer Nachfolgerin aufmerksam.

Wie geht’s weiter? „Sollte ich tatsächlich noch erleben, dass die Communities doch endlich wieder in den Mittelpunkt rücken oder muss ich mich auf eine noch weitere Entfernung von WMDE und derselben einstellen?„, fragt Achim Raschka.

Die große Frage bleibt also: Wie kann die Community besser mitgestalten? Daran wird auch zukünftig der Vorstand von Wikimedia Deutschland gemessen werden.

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1 Antwort zu Wikimedia Deutschland steckt in der Krise

  1. Arcy sagt:

    Meines Erachtens sind die sogenannte Community Projekte ein zentraler Punkt des Konflikts. Im Zusammenhang mit dem Absägen Pavel Richters schreibt Phillip Birken auf der Mailingliste des Vereins

    „So, mittlerweile ist das Strategiepapier[1] bekannt, allerdings wird dort keine strategische Neuausrichtung, die mit dem aktuellen Vorstand nicht machbar ist, dokumentiert. Die grösste Änderung ist in meinen Augen, dass die Qualität der Inhalte der Wikimedia-Projekte nur noch eine Nebenrolle spielt.“

    Zählt man 1 + 1 zusammen, dann scheint es ein Streit um die Verteilung des großen Wikipedia-Spendenkuchen zu sein. Die bisherige Verteilung auf Projekte weckte bereits Neid. Viele möchten ein Stückchen vom Kuchen haben. Eine Minimierung von Qualitätskriterien macht eine breiter gestreute Verteilung der Spendenkamellen möglich so dass – um es mal provokativ zu formulieren – „Fotourlaub auf Malle für alle“ finanziert werden kann.

    Man muss sich die Streuung der Spenden in Zukunft genau anschauen.

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