Relevanzkriterien und Löschpraxis. Oder: Wie man Autoren aus Wikipedia vertreibt

Kein Wunder, dass es Wikipedia immer schwerer fällt, neue Autoren zu gewinnen. Viel zu strenge Relevanzkriterien und eine damit verbundene Löschpraxis führen zu einem „Löschwahn“, der gerade Neulingen die Mitarbeit vergrault.

Aktuell zeigt die Diskussion zum „Dorfkirchenwahn“ welchen Schaden die derzeitigen Relevanzkriterien in Wikipedia anrichten können. Die Geschichte von Benutzer:Huckety hätte eine Erfolgsstory werden können. Warum sie es nicht geworden ist, und was dagegen getan werden kann, davon handelt der folgende Beitrag.

Kompromisslose „Löschhölle“

Huckety ist ein Benutzer, wie Wikipedia ihn sich wünscht. Seine freie Zeit nutzt der Rentner, um mit dem Fahrrad das Umland im westlichen Nordrhein-Westfalen zu erkunden und dabei Denkmäler zu fotografieren.

Anfangs beschränkte er sich darauf, seine Fotos der Mediendatenbank Wikimedia Commons zur Verfügung zu stellen. Doch bald fing er an, auch Artikel zu Denkmälern und Gebäuden seiner Umgebung anzulegen. Bis heute hat Huckety 454 Artikel geschrieben oder um mehr als 50 Prozent erweitert.

Weil er nicht nur einzelne Gebäude darstellen, sondern ein Gesamtbild seines Heimatkreises wiedergeben wollte, legte Huckety Artikel zu Kapellen an, die gar nicht unter Denkmalschutz stehen und auch sonst nicht als relevant genug im Sinne der Kriterien der Wikipedia gelten.

Nicht weiter schlimm, sollte man meinen. Wenn sich jemand die Mühe macht, warum nicht. Weit gefehlt! Ende 2013 wurde Benutzer:Matthias darauf aufmerksam, dass immer mehr Dorfkirchen aus dem Kreis Heinsberg einen eigenen Artikel bekamen.

„Muss dass wirklich sein? Wiki ist doch kein Kirchenführer.“

Er eröffnete eine Projektdiskussion, um den „Dorfkirchenwahn“ in Wikipedia zu stoppen. Die Resonanz fiel mager aus. Die Mehrzahl der Diskussionsteilnehmer hatte mit den Dorfkirchen kein Problem und sprach sich für ein Behalten aus.

Wieder einer weniger

Anfang Januar 2014 bekam Huckety die erste computergenerierte Nachricht. Der freundliche Ton täuscht über den Inhalt hinweg. Hier soll ein Artikel gelöscht werden, in den jemand viel Arbeit investiert hat.

„Du hast gewiss einiges an Arbeit hineingesteckt und fühlst dich vielleicht vor den Kopf gestoßen, weil dein Werk als Bereicherung dieser Enzyklopädie gedacht ist. Sicherlich soll aber mit dem Löschantrag aus anderer Sichtweise ebenfalls der Wikipedia geholfen werden. Bitte antworte nicht hier, sondern beteilige dich ggf. an der Löschdiskussion. Grüße, Xqbot“

Das Computerprogramm Xqbot teilte ihm mit, dass ein IP-Benutzer die Löschung seines Artikels zur St. Lambertuskapelle beantragt hat, weil ihm das Gebäude nicht relevant genug erschien. Etwa einen Monat später folgte der nächste Löschantrag, einen Tag danach der dritte. So ging es immer weiter.

„Beinahe alle diskutierenden Benutzer sprachen sich für Behalten aus, und das mit hinreichenden Begründungen und Verweisen auf andere Fälle.“ (Wikipedia Löschprüfung)

Insgesamt hinterließ der Bot 13 Mal den Hinweis, dass ein Artikel von Huckety zum Löschen vorgeschlagen wurde. Obwohl sich wieder die Mehrheit der Benutzer für ein Behalten der Bauwerke ausgesprochen hatte, wurden fast alle Artikel gelöscht.

„Eine Löschung ist eine sehr rigide Maßnahme und sollte daher das letzte Mittel sein. (…) Bedenke, dass wir in vielen Jahren auch schon sehr viele gute Autoren verloren haben.“ (Wikipedia:Löschregeln)

Niemand der eifrigen Löschprüfer hielt es für nötig, Huckety direkt auf die Relevanzprobleme seiner Artikel anzusprechen. Statt einen Kompromiss zu suchen, wurde ein Löschantrag nach dem anderen gestellt.

Huckety selbst meldete sich nur ein einziges Mal frustriert zu Wort und schlug einem der Antragsteller vor, doch gleich alle Kapellen zu löschen:

„Hallo Alupus, warum stellst Du keinen Antrag gleich alle Kapellen zu löschen. Meinen Segen als Autor hast du.“

Und es kam, wie es kommen musste: Huckety hat die Arbeit in der Wikipedia eingestellt. Seine Bilder und Texte wird er in Zukunft wieder auf  seiner Homepage veröffentlichen.

Die Entscheidung ist absolut nachvollziehbar. Wer will sich schon in seiner kostbaren Freizeit von löschfreudigen Admins ärgern lassen und gegen Windmühlen kämpfen?

„Nach den zahlreichen Löschungen habe ich die Lust an Wikipedia verloren. Ich werde die Kirchen und Kapellen auf meiner eigenen Homepage darstellen, denn da habe nur ich die Löschrechte.“

Die Macht der „Relevanzfetischisten“

Das alles geschah mehr oder weniger unbemerkt von der Community. Erst der Artikel „Von Kapellen und Frittenbuden“ von Benutzer:Superbass im Wikipedia-Nachrichtenblatt „Kurier“ machte die Geschichte bekannt.

Seitdem ist die Empörung groß. Viele User sind fassungslos und machen ihrem Ärger über die „Löschmeister“ deutlich Luft.

„Wenn die Löschfraktion sich Mühe gibt sind bald keine Autoren mehr da. Der Blick in die Löschdiskussionen macht mich immer wieder fassungslos.“

Der Frust ist verständlich. Viele User haben das Gefühl, dass die in den zahlreichen Diskussionen vorgebrachten Argumente von den löschenden Admins kaum berücksichtigt worden sind. Offenbar haben einige von ihnen wichtige Grundprinzipien nicht verstanden.

Der folgende Überblick zeigt, worauf es ankommt:

  • Relevanzkriterien dienen als Orientierungshilfe: Erfüllt ein Artikel die Kriterien nicht, so führt das nicht automatisch zum Löschen.
  • Relevanzkriterien sind Einschlusskriterien: Das Löschen eines Artikels ist die Ausnahme, nicht die Regel. Entscheidend ist immer der jeweilige Einzelfall.
  • Löschen als Ultima Ratio: Ist die Relevanz fraglich, müssen Admin und Autor gemeinsam darauf hinarbeiten, wie das Thema erhalten bleiben kann.
  • Qualität steht über Relevanz: Informative und quellenbasierte Artikel sind eine Bereicherung für Wikipedia.
  • Löschanträge individuell begründen: Auf der Diskussionsseite des betroffenen Autors sollte eine individuell formulierte und begründete Nachricht hinterlassen werden, weshalb der Löschantrag gestellt wurde.
  • Mehrheit als Maßstab: Löschdiskussionen sind keine Abstimmungen. Spricht sich aber die Mehrheit für das Behalten eines Artikels aus, müssen sehr gewichtige Argumente für ein Löschen vorgebracht werden.
  • Neulinge sind wichtig für das Projekt: Gerade neue Autoren resignieren schnell und fühlen sich durch Löschanträge vor den Kopf gestoßen.

Business as usual?

Die rigide Löschpraxis hat in der Community eine Welle der Empörung ausgelöst. Wie soll es weitergehen, wenn sich die Wogen wieder geglättet haben? Der einfachste Weg wäre einfach so weiterzumachen wie bisher. Besser wäre es, aus Fehlern zu lernen.

„Ermessen heißt aber vor allem, Respekt gegenüber den freiwilligen Autoren und deren Arbeit zu haben. Ein nur bedingt relevanter, jedoch informativer und ordentlich geschriebener Artikel ist im Vergleich zum Verlust eines engagierten Autors, verärgerter Wikipedianer (…) das deutlich kleinere Problem.“ (Benutzer:Cosinus)

Die zahlreichen Diskussionen haben gezeigt, dass die verantwortlichen Admins viel sensibler mit Löschanträgen umgehen müssen. Sie tragen Verantwortung für die gesamte Wikipedia.

Verantwortung zu übernehmen bedeutet auch die Folgen eines gelöschten Artikels für dessen Autor und dessen künftige Arbeit in Wikipedia zu berücksichtigen.

Autoren, die von einem löschwütigen Admin betroffen sind, sollten sich an die Community wenden (oder an uns) und den Fall bekannt machen. Zumindest in diesem Fall sollten weitere Admins eingeschaltet werden, um den „Löschwahn“ einzelner Admins zu stoppen, zumindest aber deren Berechtigung zu prüfen.

 

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2 Antworten zu Relevanzkriterien und Löschpraxis. Oder: Wie man Autoren aus Wikipedia vertreibt

  1. kusanowsky sagt:

    Warum die rigide Löschpraxis hilfreich ist:

    Zugegeben ist die Rigidität in Sachen Artikellöschung ein echtes Ärgernis. Der Ärgernis ist natürlich die Entmutigung von engagierten Autoren. (Aus diesem Grund schreibe ich selbst keine Artikel bei Wikipedia, weil ich mir als Experte eines bestimmten Fachthemas von einem schlechter informierten Admin niemals vorschreiben lassen würde, was richtig , was relevant, was neutral ist und was nicht.)

    Aber die Sache hat auch eine andere Seite, die für die Entwicklung einer Enzyklopädie von Bedeutung ist. Dabei geht es um die Relevanz von Wikipedia selbst.
    Um es so kurz wie möglich zu erklären: Alle Relevanzkritierien sind größtenteils überflüssig, weil niemand ausreichende Argumente hat, um Relevanz entweder zu behaupten oder zu widerlegen. Es werden auch in beiderlei Hinsicht keine ausreichenden Argumente vorgetragen. Vielmehr findet nur ein Machtkampf stattt, der stets zu Gunsten der Admins ausfällt, was daher kommt, da sie ehrenamtlich tätig sind. Die Beziehung der Admins zu Wikipedia beruht nicht auf Vertrag, den man kündigen könnte, sondern auf Gewohnheitsrechten, die niemand abschaffen kann.
    Nur aus diesem Grunde gewinnen Admins jeden Machtkampf, der stets darin besteht, dass ein weniger mächtiger Autor entmutigt wird und selbst kündigt, weil nur das möglich ist.
    Ergebnis: Es zeigt sich, dass – da die Gewohnheitsrechte der Admins nicht durch eine Mehrheit zustande kommen und darum durch eine Mehrheit auch nicht abgeschafft werden können – eine Mehrheit allenfalls mit den „Füßen abstimmen“ kann. Und erst, wenn eine Mehrheit dies entweder tut oder tun könnte, könnte sich die Relevanz der Wikipedia herausstellen. Denn entweder bleiben dann nur sehr wenige Autoren bei Wikipedia oder: eine Mehrheit sammelt sich woanders, weil die Relevanz der Enzyklopädie wichtiger ist als die Relevanz der Wikipedia-Enzyklopädie. Da aber für diese Relevanz auch keine ausreichenden Argumente möglich sind, muss der Prozess des Ausscheidens und Neusortierens sich selbst überlassen bleiben.
    So ist die rigide Löschpraxis, wenn auch ärgerlich, ein Prüfstein für die Relevanz der Enzyklopädie selbst. Entweder kann diese Löschpraxis dauerhaft durchgesetzt werden, ohne, dass sich eine Alternative zeigt, oder es zeigt sich, dass die Relevanz der Enzyklopädie wichtiger ist. Dann kann sie auch woanders und auf andere Weise mit selben Software organisert werden.

  2. Arcy sagt:

    So einen Witz gab es schon mal öfters in der Wikipedia. Zum Beispiel 2013 anlässlich des NRW-Tag 2013. Für den im Jahr 2013 in Hückeswagen stattfindenden NRW-Tag war Wikimedia Deutschland im Gespräch mit der Stadt Hückeswagen, die dort ein Navigationssystem für Sehenswürdigkeiten anbieten möchte. Gespeist werden soll das System aus der deutschsprachigen Wikipedia. Torpediert wird die „Vision“ des Vereins ausgerechnet von der deutschen Wikipedia.

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