Wikimedia in der Gender-Falle? Warum Diversität nicht nur Frauenförderung bedeutet

Es war die erste Konferenz, die sich explizit mit dem Thema Vielfalt in Wikipedia beschäftigte. Doch die „Diversity Conference 2013„, die im November von Wikimedia Deutschland in Berlin veranstaltet wurde, hatte vor allem einen Schwerpunkt: der niedrige Anteil an Frauen in Wikipedia.

Der Gender Gap in Wikipedia, also das Ungleichgewicht bei der Geschlechterverteilung, ist kein neues Phänomen. Bereits 2009 brachte Benutzer:Mo4jolo die Geschlechterkluft  in seinem Beitrag „Enzyklopädie ist anders“ mit radikalen Worten auf den Punkt:

„Wikipedia ist die kollektivierte selektive Wahrnehmung einer peer group der unter 30-jährigen gebildeten onlinophilen Männer (fortan U30goM). Ihr Weltbild, ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit konstruiert eine selektive Weltsicht. Sie erheben den Anspruch, das Wissen der Welt darzustellen, eine universale, freie Enzyklopädie zu schaffen. Sie dominieren das Projekt.“

Ganz so einseitig ist die Community nicht. Wahr ist aber: Die Gemeinschaft der Wikipedia-Autoren ist nicht repräsentativ für die Bevölkerung. Auch 2013 ist Wikipedia die Enzyklopädie einer Minderheit.

Der Wikipedia-Kosmos muss bunter werden

Die Förderung von Diversität in Wikipedia hat allerhöchste Priorität. Ziel muss es sein, Menschen jeden Alters, jeder Ethnie und jeder sozialen Schicht für das Mitmach-Lexikon zu begeistern.

Ein Blick auf das Programm der „Wikimedia Diversity Conference“ zeigt aber, dass Diversität in erster Linie auf Geschlechterdiversität abzielt. Nicht allen gefällt der starke Fokus auf die Förderung von Frauen in Wikipedia.

Josh Lim alias Benutzer:Sky Harbor, Vizepräsident von Wikimedia Philippines, kritisierte via Facebook, dass die Themen geografische Diversität und die Partizipation in Ländern des globalen Südens eine viel größere Rolle spielen müssten. Hier gebe es große Wachstumspotentiale, die mit Blick auf den Autorenmangel nicht verspielt werden dürften.

„I can’t help but feel that maybe we’re focusing too much on the gender gap in a conference which ostensibly wants to promote diversity in general. (…) There are only three sessions on geographic/ethnic diversity, and the rest are on gender and Wikipedia? Is the fight for greater diversity on Wikipedia solely (or mostly) about bringing more women (…) people onboard?

Worum es eigentlich gehen müsste

Auch die gesteckten Ziele im „Jahresplan 2014 – Vernetzen und Ermöglichen“ (über den endgültigen Jahresplan 2014 wird die Mitgliederversammlung am 30. November 2013 entscheiden) zeigen, dass sich Wikimedia Deutschland einseitig auf Gender-Fragen konzentriert.

So sollen laut Entwurf Einzelworkshops im Bildungsbereich abgeschafft werden, weil sie nicht dazu beitragen, neue Autoren zu gewinnen.

„Um die Reichweite unserer Aktiviäten zu erhöhen, konzentrieren wir uns fortan insbesondere auf Institutionen anstatt Einzelworkshops im Bildungsbereich. Die Auswertung unserer Aktivitäten legt diesen Schritt nahe, da auf die direkte Schulung von Interessierten kaum nachhaltige Effekte für die Beteiligung an den Wikimedia-Projekten folgten. Es ist sinnvoller, die Institutionen zu informieren, auf diesem Wege für Freies Wissen zu sensibilisieren und so Inhalte zu befreien.“

Workshops wie „Women edit“ sollen hingegen weitergeführt werden, obwohl sie kaum zur Autorengewinnung beitragen:

„Auch im Bereich Diversity gilt es 2014, die 2013 erfolgte Analyse in Projekte zu überführen, die dazu führen, dass die Wikimedia-Projekte gesellschaftliche Realitäten besser abbilden. Erfolgreiche Projekte wie „Women edit“ müssen in vielen Regionen etabliert werden.“

Bei der Lektüre des Jahresplans fällt auf, dass Wikimedia zum Thema Diversität leider nicht viel mehr einfällt, als die Förderung von Frauen. Was ist mit der aktiven Förderung von Schülern, der Zielgruppe 50+, sexuellen Minderheiten, Menschen mit Behinderungen, Migranten?

Ein ähnlich einseitiges Bild zeigt sich im Bereich „Bildung und Wissen„. 2013 wurden zur Stärkung der Diversität – eines der vier Jahresziele von Wikimedia – fünf Projekte ins Leben gerufen, die allgemein darauf abzielen, „viele verschiedene Menschen zum Mitmachen zu motivieren„. Mit einer Ausnahme:

Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Wikipedia-Gender-Diversity-Konzept“ befasst sich bis Ende des Jahres speziell mit der Förderung von Frauen in Wikipedia. Im Rahmen dieser Kooperation mit dem Gender- und Technikzentrum der Beuth-Hochschule sollen „neue Möglichkeiten, die die Teilnahme an Wikipedia fördern sollen“ erarbeitet werden.

Wie man Geld zum Fenster rausschmeißt

Und was ist bei dem 80.000 Euro schweren Projekt bisher herausgekommen? Nicht viel mehr als schwammiges Arbeitspapier von Prof. Dr. Ilona Buchem und Julia Kloppenburg, das allenfalls das zusammenfasst, was auch bisher schon bekannt war, aber kaum praktische Lösungen anbietet.

„Diversität – das neue Wort für Frauenförderung. Oder welch andere unterrepräsentierte Benutzergruppe wurde angesprochen?“ (Kommentar von „Sicherlich“ im Wikimedia-Bog)

Einem der Gründungsmitglieder von Wikimedia Deutschland, Ulrich Fuchs, ging das zu weit. Er zog Konsequenzen – und erklärte seinen Austritt aus dem Verein.

„(…) Wikipedia und Wikimedia waren der Aufklärung verschrieben. Das scheint Geschichte zu sein. Vortragstitel wie “Towards the Democracy of Knowledge: Bringing Gender Diversity to Wikipedia”, mit denen etwa eine Frau Buchem vorgibt, Forschung zu betreiben, zeugen von gegenteiliger Geisteshaltung. Hier geht es nicht mehr um freie Inhalte, Aufklärung, Wissenschaft oder auch nur Lehre, hier geht es ausschließlich ums leistungslose Abgreifen von Förder- und wie in diesem Fall Drittmitteln mittels inhaltsleerer Phrasen (…).“

Der „Stadtfuchs“ Ulrich Fuchs ist dafür bekannt, beharrlich gegen den „Gender-Mainstreaming-Wahn“ anzuschreiben. Seine Kritik an dem Projekt ist deshalb nicht sehr überraschend. Aber auch von einem neutralen Standpunkt aus betrachtet, erschließt sich der Sinn des hoch dotierten Berliner Hochschulprojekts nur schwer.

Diversität kann man nicht überstülpen

Überhaupt entsteht der Eindruck, dass das Thema Gender-Diversität massiv von außen in die Community hineingetragen wird, ohne dass es von den Nutzern tatsächlich eingefordert wird.

Die lesenswerte Diskussion zum Diversity-Schwerpunkt auf der diesjährigen Wikimania in Hong Kong zeigt: Namhafte aktive Wikipedianer sind genervt vom „Frauen-agenda-setting“. Benutzer:Poupou schreibt:

„Man kann Diversität nicht überstülpen. Die Zugangshürden – für alle Gruppen – liegen IMHO inzwischen viel eher bei der überkomplexen Syntax und den qualitativen Anforderungen ab dem ersten Edit. Die meisten Newbies, egal ob Mann, Frau oder Schlumpf, kommen heutzutage gar nicht mehr so weit, dass sie an der Kommunikationskultur o.ä. scheitern können. Ich persönlich schaffe es z.B. schon länger nicht mehr, interessierten Nicht-Wikipedianern, die mich auf Fehler aufmerksam machen, zu sagen ‚das kannst du selbst ändern, es ist ganz einfach.'“

Eine Mini-Umfrage von Benutzerin:Siesta stützt diese Einschätzung. Mit Ausnahme von „nicht gendergerechte Sprache“ sprechen die Teilnehmer der Umfrage Probleme an, die für alle Neulinge gleichermaßen gelten: „Insidersprache und Abkürzungsfimmel“, „zu viele Regeln“, „Status-Probleme“, „Tonfall in Diskussionen“.

Fazit: ran an die Menschen!

Der Autorenschwund in Wikipedia ist die größte Bedrohung für die Zukunft des Projekts. Es ist deshalb enorm wichtig, neue Autoren für das Mitmach-Lexikon zu begeistern. Wikipedia hat die Mission, das Wissen der Welt darzustellen. Um diesem Ziel näher zu kommen, muss die bestehende Monokultur in Wikipedia aufgebrochen werden.

Viel zu viele Menschen scheuen sich davor, bei Wikipedia mitzumachen: Frauen genauso wie Rentner, behinderte Menschen und Migranten. Wikimedia Deutschland hat sich einseitig auf die Steigerung des Frauenanteils fokussiert. Das ist kurzsichtig.

Der Bereich „Bildung und Wissen“ bei Wikimedia sollte sich auf klassische Schul-, Hochschul-, VHS- und andere Programme konzentrieren, „in denen kleinteilig Leute von der Idee angefixt werden, wie man am Freien Wissen teilnehmen kann.“ Das Motto aller Aktivitäten muss sein: ran an die Menschen!

In diesem Zusammenhang war es ein schwerer Fehler von Wikimedia Deutschland, das Referentennetzwerk einzustellen. Wichtige Wikipedia-Projekte wie das Schulprojekt, das Hochschulprogramm und das Seniorenprogramm Silberwissen werden nicht mehr wie früher unterstützt. Sie müssen seitdem von den Referenten in eigener Regie weitergeführt werden.

Diversität bedeutet auch, dass bestehende Barrieren für Menschen mit Behinderungen abgebaut werden müssen. Wikipedia muss für jeden leicht zugänglich und intuitiv nutzbar sein. Den Themen Benutzerfreundlichkeit und Barrierefreiheit muss mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Viel hängt von der Community selbst ab, glaubt auch Benutzer:Elop:

„Für entscheidender hielte ich, dass wir intern – das können die Vereine nicht – an unseren Umgangsformen feilten. Wenn jemand gutwillig zu uns stößt und ziemlich bald angepöbelt wird, ist es nämlich schon so, dass der Mann genetisch und per Sozialisation sagt ‚Da muss ich durch‘, während die Frau stärker zu ‚Ich bin doch nicht blöd‘ tendiert. Schließlich werden auch statistisch mehr Männer als Frauen auf den Vorschlag, einen Konflikt mal vor der Tür auszutragen oder ein privates Autorennen zu fahren, eingehen.“

Wikipedia und letztlich wir als Nutzer können nur davon profitieren, wenn sich möglichst viele unterschiedliche Menschen beteiligen. Nur durch die Vielfalt bei den Autoren entsteht die Vielfalt bei den Inhalten. Und das ist was zählt.

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1 Antwort zu Wikimedia in der Gender-Falle? Warum Diversität nicht nur Frauenförderung bedeutet

  1. Vorsicht mit der Gleichsetzung von Wikipedia-Community und Nutzern.

    Natürlich kommt das Thema Geschlechtergleichheit für eine sehr Männerdominierte Community von Außen. Schließlich ist intern höchstens eine kleine Minderheit direkt davon betroffen.

    Die Nutzer sind allerdings auch all diejenigen, die Wikipedia v.a. lesen und im Bestfall vielleicht verlinken.

    Ich habe früher aktiv die Wikipedia bearbeitet. Was mich heute selbst davon abhält sie zu verlinken:

    * Löschung von Artikeln.
    * Geschichten über Edit-Wars – zu bestimmten Themen lässt sich einfach keine gesellschaftlich allgemein akzeptierte Information finden. Trotzdem behalten bestimmte Leute die Oberhand und kontrollieren die Inhalte der Artikel.
    * Sehr aggressive Versuche, Artikel zu löschen (Beispiel: dwm – und letztens auch mal wieder ein Artikel, den ich grade jemandem als Referenz zu einem Thema schicken wollte).
    * Sehr aggressive Versuche, Artikel zu löschen, mit Referenzen auf Notabilität, die dann in den Kommentaren auch noch die Aussagen der Kriterien zur Notabilität verdrehen.

    Wikipedia ist angetreten, das Wissen der Menschheit zu archivieren. Heutzutage ist sie für einige Wikipedianer einfach nur noch ein Werkzeug, um ihre Meinung darüber zu verbreiten, welches Wissen wertvoll ist und was vergessen werden sollte – oder gar um die Meinung ihrer Untergruppe als eine allgemeine Wahrheit zu adeln.

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