Englische und deutsche Wikipedia zur Schulden- und Währungskrise: Andere Sprache, andere Story?


Wikipedia ist die größte Wissenssammlung der Welt. Sie hat eine Aufgabe: so neutral und so objektiv wie möglich, durch die Intelligenz des Schwarms ihrer Autoren so demokratisch und offen wie möglich, dabei so fundiert und quellenbasiert wie möglich, das historische Weltgeschehen zu dokumentieren.

Dazu gehört seit inzwischen mindestens vier Jahren, dem Crash der New Yorker Lehman-Bank und dem Platzen amerikanischer und europäischer Immobilienblasen, eine globale Wirtschaftskrise. Die Gründung der G20, gescheiterte Versuche der Zähmung der Märkte folgten. In Europa hält seit dieser Zeit eine Wirtschafts-, Währungs- und Staatsschuldenkrise nicht nur die „nervösen Märkte“ und die Politik in Atem, sondern hat zumindest in Südeuropa bereits Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit getrieben. Erst wurden private Banken gerettet, dann Staaten.

Was kann eine Online-Enzyklopädie leisten in der Dokumentation einer andauernden Krise? Einer Krise, von der die Bundeskanzlerin ebenso wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts (jüngst bei Verkündung der Entscheidung zu den Anträgen gegen Fiskalpakt und Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM) sagen, dass niemand mit einer vergleichbaren Situation bisher konfrontiert war. Dass niemand weiß, was letztlich die richtigen Schritte sein werden.

Wiki-Watch hat sich den deutschsprachigen Artikel „Staatsschuldenkrise im Euro-Raum“ (auf den die Kurzfassung „Euro-Krise“ verweist) sowie den englischsprachigen Artikel „European sovereign-debt crisis“ angesehen. So viel vorweg: Die Wikipedianer leisten bemerkenswerte Arbeit in der akribischen Sammlung von Fakten, in der Beschreibung politischer Vorhaben, in der Wiedergabe von Kritik aus Ökonomie und Politik.

Aber sie stoßen dabei an ihre Grenzen: Wie aktuell kann eine Enzyklopädie sein? Auf welche Werte, Quellen, Zitate, Dokumente kann sie bauen? Kann man einen Bankenverband oder einen Bundesfinanzminister in einer Enzyklopädie zitieren? Sind die meisten Ökonomen in der Debatte ähnlich interessengebunden und -geleitet?

Die Tagespresse, oder minütlich aktualisierte digitale Medien, haben es leicht verglichen mit Wikipedia. Ein aktueller Börsenwert versendet sich, eine Interpretation hält bis zur nächsten Sendung, zur nächsten Ausgabe. Was die Wikipedianer schreiben, bleibt erst einmal. Wegen der Kapazitäten freiwilliger Autoren, die keine permanente Aktualisierung zulassen. Wegen der Unklarheit und Widersprüchlichkeit der Quellen. Wegen der Schleifen, die durch notwendige, aber schwierige Diskussionen zu den Artikeln entstehen. Und was nicht im Artikel bleibt, steht im Archiv.

Doch Wikipedia hat auch einen unschätzbaren Vorteil gegenüber klassischen Medien: Die Enzyklopädie vernetzt Wissen. Zu den meisten wesentlichen Stichworten aus dem Themenfeld Europas, zum Euro, den beteiligten Institutionen und Staaten, den vereinbarten politischen Vorhaben, gibt es eigene Einträge. Leser können sich von Stichwort zu Stichwort weiter klicken, finden Grafiken und Tabellen, teilweise Zusammenfassungen. Was fehlt, sind Videos, Authentizität, interaktive Infografiken. Aber erstens erwartet man dies eher von modernem Multimedia-Journalismus als von Wikipedia. Und zweitens gibt zumindest der Quellenhinweis in der Wikipedia zumeist Möglichkeiten weiterer Recherche.

Zu den Fakten: Der englische Artikel „European sovereign-debt crisis“ hat 202.000 Zeichen inklusive der Quellenangaben. 31.528 Wörter. Druckt man ihn aus, sind es 50 A4-Seiten mit 21 Grafiken und Tabellen.

Der deutsche Artikel „Staatsschuldenkrise im Euro-Raum“ ist knapper: 129.250 Zeichen, 16.806 Wörter, 18 gedruckte A4-Seiten, 19 Grafiken und Tabellen.

Zur Bewertung durch Wiki-Watch und die Wikipedia-Community: Das statistische Wiki-Watch-Rating für beide Artikel ist gut: 93 Autoren haben den deutschen Eintrag 312 mal bearbeitet, mit 236 Quellen und 222 Links versehen. 38.000 Leser hatte er im vergangenen Monat. Der englische Artikel hatte bisher 73 Autoren, 274 Bearbeitungen (viele davon daher sehr ausführlich), 587 Quellenangaben und 366 Links. Über 100.000 Leser hatte der englische Artikel im vergangenen Monat. Es kam im vergangenen Monat bei beiden Artikeln zu keinen Reverts, keinem Schutz der Seiten.

Der deutsche Artikel enthält im Abschnitt „Ursachen“ den Hinweis „Überarbeitung notwendig“, weshalb auch Wiki-Watch warnt. Ansonsten sind beide Artikel, nach den genannten statistischen Daten zu urteilen, verlässlich.

Der englische Artikel wird auch im Bereich der sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Einträge von der Wikipedia-Community als „guter Artikel“ bewertet, das ist eine Stufe unter den besten „featured articles“.

Zur umstrittenen Bezeichnung als Staatsschulden-Krise: Das Problem der Bewertung der Vielfach-Krise begann für viele Wikipedianer schon bei ihrer Bezeichnung. Das ist ein Spiegelbild der öffentlichen Debatte: Währungs-Krise, Euro-Krise, Schulden-Krise, Staatsschulden-Krise. Die Begriffe spiegeln einen Kampf um Deutungshoheit. Angela Merkel spricht von Staatsschulden-Krise, weil sie in der Überschuldung einzelner Staaten das Problem sieht, nicht im Konzept des Euro. Andere halten den Euro für die falsche Idee oder die falsche Konstruktion, benutzen daher das Wort Euro-Krise. Schulden-Krise wäre wiederum weiter gefasst als Staatsschulden-Krise, schließlich begann die Krise nach Auffassung vieler mit dem Crash der Banken, mit Staaten, die einsprangen und in der Deckung privater Schulden weitere Staatsschulden anhäuften. Doch über all dies besteht keine Einigkeit, das Ursache-und-Wirkung-Verhältnis im Rahmen dieser Währungs- und Wirtschaftskrise ist Gegenstand der öffentlichen Kontroverse, zu klären vielleicht erst von Wirtschaftshistorikern, die einmal darauf zurückblicken werden.

Die lange Debatte und Abstimmung endete in der deutschen Autoren-Gemeinde des Artikels daher damit, den Artikel „Staatsschuldenkrise im Euroraum“ zu nennen, abweichend von dem englischen Artikel der von „European sovereign-debt crisis“, also Europäischer Staatsschuldenkrise spricht und diese nicht unmittelbar mit dem Euro konnotiert. Wikipedia sieht sich hier dem Dilemma klassischer Medien ausgesetzt: Die Wirklichkeit zu spiegeln, also auch die in der öffentlichen Debatte am häufigsten gebrauchten Begriffe zu nutzen (was gerne an der Zahl der Google-Treffer gemessen wird, was wiederum problematisch ist), und gleichzeitig damit Tendenzen zu verstärken.

Zu den Perspektiven der englisch- und deutschsprachigen Autoren: Vergleicht man die deutschsprachige und die englischsprachige Dokumentation in Wikipedia, könnte man vorher von naheliegenden Annahmen ausgehen. Im englischen Sprachraum könnte eine angelsächsisch geprägte, wirtschaftsliberale, staatskritische, aber auch keynesianische, auf Verschuldung in Krisenzeiten unter Inkaufnahme von Inflationsrisiken gerichtete Sicht der Dinge vorherrschen. Dagegen im deutschen Sprachraum eine spezifisch deutsche Sicht, die vor Inflationsrisiken warnt, Staatsverschuldung stärker problematisiert, Austerität predigt.

Was die These schwieriger macht: In der englischsprachigen Wikipedia schreibt die ganze Welt mit, aber vorrangig und – so sei unterstellt – mit der Komplexität des Themas und der Sprache ein größerer Teil englischer Muttersprachler. In der deutschen Wikipedia schreiben – unterstellt – fast ausschließlich Deutsche und Österreicher.

Dennoch: Die deutschen und englischen Wikipedia-Artikel zur Staatsschuldenkrise spiegeln diese Unterschiedlichkeit der ökonomischen Grundeinstellungen. So hat jeder Sprachraum seine eigene Objektivität, seine eigene Wahrheit, gestützt auf die gesellschaftlich geprägten Einstellungen seiner Autoren.

Es zeigt sich dies an einigen Stellen der Artikel. So versteigt sich der deutschsprachige Eintrag ausgerechnet in der Einleitung des Abschnitts zu „Ursachen“ der Krise in die folgende Aussage:

„Es scheint, dass in den meisten Staaten letztlich die Gesamtbevölkerung verantwortlich ist, die sich seit Jahrzehnten an das Schuldenmachen gewöhnt hat (z. B. Kauf von Autos und Immobilien).“

Die Gesamtbevölkerung ist verantwortlich für was? Für das Handeln ihrer Banken? Für das Handeln ihrer demokratisch gewählten Regierungen? Sind es tatsächlich die einzelnen Bürger, noch dazu in ihrer „Gesamtheit“, denen hier eine Verantwortung zukommt oder sind nicht ein Großteil der Bürger eher Leidtragende, ob als Steuerzahler oder als krisenbedingt Arbeitslose? Der Satz gibt eine zu einfache Wahrheit vor für eine der Wahrheitssuche verpflichtete Enzyklopädie. Der Abschnitt ist folgerichtig mit „überarbeitungsbedürftig“ gekennzeichnet.

Der deutsche Artikel setzt die Ursachenforschung dann fort mit Abschnitten zu den länderspezifischen Problemen in südeuropäischen „Krisenstaaten“, zur Finanz- und Immobilienkrise seit 2007, zu Defiziten der Ausgestaltung der Währungsunion, zu ökonomischen Ungleichgewichten in der Euro-Zone und „Vertragsbrüchen in der Euro-Währungsunion“.

Der englische Artikel enthält vergleichbare Themenkomplexe, reduziert aber die Komplexität nicht auf einfache Wahrheiten. Der Abschnitt „Causes“ (Ursachen) ist eingeleitet mit der Aussage:

„The European sovereign debt crisis resulted from a combination of complex factors, including the globalization of finance; easy credit conditions during the 2002–2008 period that encouraged high-risk lending and borrowing practices; the 2007–2012 global financial crisis; international trade imbalances; real-estate bubbles that have since burst; the 2008–2012 global recession; fiscal policy choices related to government revenues and expenses; and approaches used by nations to bail out troubled banking industries and private bondholders, assuming private debt burdens or socializing losses.“

Diese Einleitung setzt einen anderen Schwerpunkt: Nicht auf die Verschuldung einzelner Staaten als Ursache, sondern als Wirkung der Probleme eines globalisierten Finanzmarkts – von überzogenen Risiken, von internationalen Handelsungleichgewichten, Immobilienblasen, der seit 2008 andauernden globalen Rezession, fiskalpolitischen Entscheidungen der Regierungen seither und Versuchen der Nationen Banken und Anleger zu stützen und Verluste zu sozialisieren.

Es ist ein anderes Narrativ, eine andere Story, die hier erzählt wird.

Natürlich gleichen sich die Artikel in Teilen wieder an, etwa in den spezifischen Beschreibungen der Probleme und der Lösungsvorhaben. Doch die beschriebene Perspektive bleibt. So taucht etwa im viel kürzeren deutschen Eintrag 12 mal das Wort Inflation auf, im englischen nur 7 mal.

Das Bundesverfassungsgericht und der Euro: Ein weiterer Unterschied fällt auf. Das Bundesverfassungsgericht, auf das ganz Europa am 12. September bei der Verkündung seiner Entscheidung zu ESM und Fiskalpakt blickte, wird im deutschsprachigen Artikel zum Verlauf der Staatsschuldenkrise nicht genannt. Im englischen Eintrag wird die Bestätigung der Vereinbarkeit des ESM mit dem deutschen Grundgesetz unter Auflagen durch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich erwähnt. Auch der deutsche Artikel zum Fiskalpakt wartet noch auf Aktualisierung – er ist noch auf dem Stand vor der Entscheidung aus Karlsruhe und der inzwischen erfolgten Ratifizierung durch die Unterschrift des Bundespräsidenten. Der sehr ausführliche Artikel zum Europäischen Stabilititätsmechanismus enthält dafür entsprechende Aussagen.

Was bleibt? Auffällig an den Artikeln und den zugehörigen Diskussionen ist die Sachlichkeit, die Akribie, das Bemühen, der Komplexität des Themas gerecht zu werden. Dies erreichen sowohl der deutsch-, als auch der englischsprachige Wikipedia-Artikel zur Staatsschuldenkrise in der Europäischen Union. Euro-Skeptiker toben sich woanders aus.

Die Wikipedia-Artikel sind aufschlussreiche Wissensquellen, müssen aber durch den Leser immer im Lichte der aktuellen Ereignisse gesehen werden. Jeder Fakt, jede Zahl ist nicht von Dauer, sondern muss mithilfe weiterer Quellen nachrecherchiert werden. Das ist nicht der Fehler der Wikipedia, sondern der Schnelligkeit der Entwicklung geschuldet. Wikipedia kann immer nur der Anfang, nie das Ende einer Recherche sein.

Unabhängige Quellen gibt es kaum. Erst aus dem Vergleich ergibt sich eine gewisse Verlässlichkeit.

Es gibt dafür ein schönes Beispiel: Autoren des englischsprachigen Artikels schrieben zwischenzeitlich in der Einleitung des Artikels:

„Nevertheless, the European currency has remained stable.[12]

Der Euro sei, trotz allem, eine stabile Währung. Die unabhängige Quelle: Ein Zitat des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble im Wall Street Journal.

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1 Antwort zu Englische und deutsche Wikipedia zur Schulden- und Währungskrise: Andere Sprache, andere Story?

  1. Clemens P. sagt:

    So einen Vergleich habe ich bisher noch nicht in Erwägung gezogen geschweige denn dran gedacht. Sollte ich zukünftig mal machen. Vielen Dank für den augenöffnenden Bericht!

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