Fakten, Fakten, Fakten: Die EM 2012 in der Echtzeit-Enzyklopädie Wikipedia


Es gibt den Kicker, Sport-Bild, 11 Freunde und andere Fachmagazine für König Fußball. Und es gibt Wikipedia. Wer die Fußball-Europameisterschaft seit vergangenem Freitag  verfolgen will, der hat die Wahl: Public Viewing, Fernsehen, Fachmagazine oder das Online-Lexikon.

Zugegeben: Schwarze Schrift auf weißem Grund, und davon sehr viel, entspricht nicht ganz den Sehgewohnheiten des modernen Fußballfans. Dazu ist die Wikipedia nicht ganz live. Aber fast: Gestern Abend, nach dem Spiel der polnischen Gastgeber gegen die russische Nationalmannschaft, stand das Ergebnis 1:1 innerhalb von zwei Minuten nach Schlusspfiff im Wikipedia-Artikel. Voreilig eingetragene Zwischenergebnisse wurden zwischendurch getilgt. Eine Enzyklopädie in Echtzeit.

Mit viel Akribie tragen deutschsprachige Wikipedianer die Fakten und Ergebnisse, die Geschichte und politischen Begleitumstände der EM in Polen und der Ukraine zusammen. Wiki-Watch hat sich die Artikel angesehen und ihre Verlässlichkeit getestet.

1. Das Turnier, Statistiken und die Kontroverse um die inhaftierte Ex-Regierungschefin der Ukraine, Julija Timoschenko: Der Hauptartikel „Fußball-Europameisterschaft 2012“ erreicht die beste Wiki-Watch-Bewertung mit fünf Sternen: 386 Autoren haben den Eintrag bisher 1353 mal bearbeitet, mit 61 Quellenangaben und 404 Links versehen, er wurde noch kein Mal gesperrt. Zwar gab es sieben Reverts in den vergangenen Tagen, doch diese sind zumeist übereilten Eintragungen von Ergebnissen geschuldet. Dass ein Spiel 90 Minuten dauert und vorher nichts feststeht, sollte also auch Wikipedia-Nutzern klar sein.

Allein gestern hatte der Hauptartikel über 133.000 Besucher. Sie konnten ihm Statistiken entnehmen, etwa dass pro Spiel durchschnittlich 2,5 Tore fallen, 3,3 gelbe Karten vergeben werden, 45.292 Zuschauer in den ukrainischen und polnischen Stadien mitfiebern.

Kontroversen um die EM-Vergabe an die Ukraine beschreibt der Abschnitt „Vorbereitungen“, etwa, dass die UEFA Anfang 2011 auf Druck der FIFA mit dem Entzug der Ausrichtung gedroht haben soll für den Fall, dass sich die ukrainische Regierung noch tiefer in die Angelegenheiten des ukrainischen Fußballverbands einmische. Dass die UEFA später im Streit um die inhaftierte Ex-Regierungschefin Julija Timoschenko schwieg, erwähnt der Artikel nicht – die Süddeutsche Zeitung kommentierte vor wenigen Tagen dazu: „Wenn es brisant wird, zieht sich die Uefa in ihr sportautonomes Schneckenhäuschen zurück – und wartet, bis das Geld fließt.“

Doch Wikipedia wäre nicht Wikipedia, gäbe es nicht einen ausführlichen biografischen Artikel über Timoschenko und die diversen rechtsstaatlich zweifelhaften Strafverfahren, mit denen sie auf Betreiben der Regierung ihres alten politischen Gegners Viktor Janukowitsch überzogen wird. Auch dieser Artikel wird von Wiki-Watch trotz eines Reverts für seine statistische Verlässlichkeit mit fünf Sternen bewertet: 166 Autoren haben ihn 463 mal bearbeitet, mit 62 Quellenangaben und 463 Links versehen. Dass die Diskussion um die politisch motivierten Verfahren, die Haftbedingungen und den Gesundheitszustand Timoschenkos in der Öffentlichkeit seit Beginn der EM spürbar nachlässt, spiegelt sich allerdings auch im Wikipedia-Artikel wieder: Er wurde zuletzt am 5. Juni 2012, drei Tage vor Beginn des Fußballspektakels bearbeitet.

2. Mannschaftsaufstellungen, Stadien, Austragungsorte: Für jede Vorrundengruppe (hier die Gruppe A mit den aktuellen Ergebnissen von gestern Abend) gibt es einzelne Wikipedia-Artikel, die die aktuellen Tabellen mit allen Ergebnissen zeigen, die Mannschaftsaufstellungen grafisch und textlich darstellen, gelbe Karten, Tore und sonstige besondere Ereignisse wie Elfmeter auflisten, den von der UEFA gekürten besten Spieler des Spiels anzeigen. Selbstverständlich ist jeder Spielername verlinkt auf den jeweiligen biografischen Wikipedia-Eintrag. Wikipedia spielt seine Stärke einer vernetzten, aktuellen Wissenssammlung aus, auch wenn das Ganze grafisch etwas antiquiert wirkt. Doch die Fakten sind verlässlich, auch am Artikel über Vorrundengruppe A haben immerhin 33 Autoren bisher mitgearbeitet.

Daneben finden sich in Wikipedia natürlich Artikel zu allen acht Spielorten zwischen Posen und Donezk und zu allen acht Stadien, hier etwa zum „Metalist-Stadion“ in Charkiw, in dem die deutsche Mannschaft heute Abend gegen die Niederlande spielt.

3. Ein wenig PR: Ein offizieller EM-Ball ist nicht nur rund und fliegt gut. Ihn herzustellen ist eine Wissenschaft, die nicht nur von der Fan-Öffentlichkeit kritisch gewürdigt werden muss. Auch Wikipedia ist der EM-Ball „Tango 12“ von adidas einen eigenen Eintrag wert, ganz unabhängig unterlegt mit den zwei Quellennachweisen einer UEFA-Pressemitteilung und dem mit adidas-Werbung gespickten Blog tango-12.de, das von Darmstädter Studenten betrieben wird. Im Artikel finden sich über jedes Relevanz-Kriterium der Wikipedia erhabene Informationen: etwa, dass die Rundheit, der Luftdruckverlust und die Wasseraufnahme des „Tango 12“ den FIFA-Vorgaben entspreche, und die Sprunghöhe des Balls bei einem Fall aus 2 Metern Höhe auf ideal hartem Boden 1,42 Meter betrage. In die gleiche PR-Falle getappt ist Wikipedia auch schon mit dem adidas-Ball der Frauen-Fußball-WM in Deutschland im vergangenen Jahr, Wiki-Watch berichtete darüber.

4. Fußball-Sprache: Wer sich für Gespräche mit anderen Fußballexperten rüsten will, findet auch dazu das nötige sprachliche Rüstzeug in Wikipedia. Ein eigener Artikel widmet sich der berühmten Weisheit „Der Ball ist rund und ein Spiel dauert 90 Minuten“, die vom 1954er Weltmeistertrainer Sepp Herberger stammen soll. „Der Ball ist rund“ war später eine Musiksendung im Hessischen Rundfunk, lernen wir im Wikipedia-Eintrag. Zu derem Inhalt heißt es: „Fußballerische Querverweise durchzogen (…) leitmotivisch viele Sendungen.“

Weitere Stilblüten finden sich in einem Eintrag über „Sportjargon“, darin gar mit einer Auflistung mehr oder weniger wichtiger Phrasen vom „Gurkenpass“ bis zur „Bananenflanke“. Die sprachwissenschaftliche Analyse dazu bieten die Wikipedianer im allgemeinen Artikel über den Fußball:

„Der Fußballjargon ist als Umgangssprache eine Sondersprache, die der (häufig vereinfachten) Kommunikation unter den Fußballbeteiligten dient.“

Wer also genug hat von vereinfachter Kommunikation und neben allen Fakten rund um die Europameisterschaft richtig viel lernen will über Fußball, dem sei die Wikipedia empfohlen. Mit Ausname der Ball-PR weitgehend kommerzfrei. Textwüstig, aber faktenreich. Und fast immer zuverlässig.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.