Warum die italienische Wikipedia zwei Tage lang offline war: Protest gegen eine Gesetzesinitiative der Regierung Berlusconi, die Freiheit und Neutralität der Enzyklopädie bedroht


Wikipedia ist die freie Enzyklopädie. Die italienische Wikipedia nennt sich L’enciclopedia libera. Freiheit bedeutet nicht nur die freie Verfügbarkeit von Wissen unter freien Lizenzen, sondern die Freiheit der Äußerung, der Dokumentation, Diskussion und der Rezeption in der weltgrößten Wissenssammlung Wikipedia. Freiheit bedeutet Neutralität, das Konzept, dass die Wikipedia-Inhalte von der Community kollaborativ erstellt, kontrolliert und korrigiert werden.

Weil sie diese Freiheit und Neutralität bedroht sieht, war die italienische Wikipedia von Dienstag, den 4. Oktober 2011, bis Donnerstag, den 6. Oktober 2011, offline. Sie war vollständig gesperrt für Lese- und Schreibzugriffe. 845.944 italienische Wikipedia-Artikel waren nicht zugänglich, der viertgrößte Sprachraum der Enzyklopädie. Durchschnittlich 527.000 Leser pro Stunde hat die italienische Wikipedia. Auf der Startseite sahen sie nur einen Brandbrief der italienischen Wikipedia-Community.

Der Protest, der auch nach dem Ende der Komplett-Sperrung fortdauert, richtet sich gegen eine Gesetzesinitiative der Regierung von Silvio Berlusconi, die derzeit im italienischen Parlament verhandelt wird. Angeblich soll diese dem Persönlichkeitsschutz dienen. § 29 des Gesetzentwurfs, überschrieben mit DDL intercettazioni (Abhörmaßnahmen), sieht in inoffizieller Übersetzung vor, dass auf Internetseiten sowie in Tageszeitungen und Zeitschriften, die auf elektronische Weise veröffentlicht werden, innerhalb von 48 Stunden nach Antragseingang Statements und Korrekturen an gleicher Stelle und in gleichbleibender Formatierung, ohne Veränderung des Zugangs zur Seite oder der Sichtbarkeit der Nachrichten, auf die sie sich beziehen, veröffentlicht werden müssen. Der Gesetzentwurf findet sich auf der Website des Parlaments.

Die italienische Regierung will also ein Instrument schaffen, dass jede Internetpublikation im Anwendungsbereich des italienischen Rechts dazu verpflichtet, innerhalb von 48 Stunden kommentarlos Stellungnahmen Betroffener zu publizieren. Und mehr noch: Die Verpflichtung erstreckt sich auch auf jegliche Korrekturen, die ein Betroffener fordert. Auch diese müssen kommentarlos vorgenommen werden. Betroffen sind Onlinemedien, Blogs, selbst jene der auch in Italien von der Pressefreiheit verfassungsrechtlich besonders geschützten Zeitungen und Zeitschriften. Und Wikipedia.

Die Wikipedianer gehen in ihrem Protest offenbar davon aus, dass die Regelung den italienischen Sprachraum unmittelbar beträfe und auch unmittelbar durchsetzbar wäre – sei es durch Ansprüche gegen die Editoren selbst, gegen die Administratoren oder die Betreiber der Enzyklopädie. In Deutschland ist die Rechtslage anders: Rechtsansprüche gegen Wikipedia aufgrund von Persönlichkeitsrechtsverletzungen können nach der Rechtsprechung des Landgerichts Hamburg (Urteile vom 26.03.2010, Az. 325 O 321/08 und vom 02.07.2009, Az. 325 O 321/08) nicht gegenüber dem deutschen Wikimedia-Verein durchgesetzt werden, sondern nur gegenüber der Wikimedia Foundation in San Francisco als Betreiberin der Wikipedia. Rechtsschutz ist damit nur sehr mühsam zu erlangen. Wikipedia genießt damit eine Wiki-Immunity, die Verantwortung der Editoren für eine wirksame Selbstregulierung ist daher enorm. Eine ausführliche Analyse findet sich hier.

Träte es so in Kraft, so schüfe das italienische Gesetz nicht nur eine Gegendarstellungsmöglichkeit, sondern ließe willkürliche Löschungen, Korrekturen und Manipulationen zu. Dies erfolgte unter Missachtung elementarer rechtsstaatlicher Regeln ohne Widerspruchsmöglichkeit und ohne Verfahren. Wer sich an die Veröffentlichungs- bzw. Korrekturverpflichtung binnen 48 Stunden nicht hielte, dem drohten Geldbußen bis zu 12.000 Euro.

Gegendarstellungsansprüche kennt auch das deutsche Presserecht, etwa in § 10 des Pressegesetzes des Landes Berlin. Für die sogenannte elektronische Presse, also journalistisch-redaktionell gestaltete Onlineangebote, gilt § 56 des Rundfunkstaatsvertrages (RStV). Gegendarstellungen sollen das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über die Darstellung der eigenen Person in der Öffentlichkeit sichern und damit eine elementare Ausprägung des Persönlichkeitsrechtes aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes. Die Verpflichtung zur Veröffentlichung von Gegendarstellungen verletzt daher nicht die Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG, wie das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt hat. Vielmehr dient sie der Sicherstellung gleicher publizistischer Wirkung, wie eine von der früheren schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis einst durchgesetzte Gegendarstellung auf Seite 1 der Bild-Zeitung eindrucksvoll belegte.

Gegendarstellungen erfordern ein berechtigtes Interesse des Betroffenen. Sie sind eng begrenzt auf Tatsachenmitteilungen. Für Onlinemedien gilt überdies die Beschränkung auf journalistisch-redaktionell gestaltete Angebote, in denen insbesondere vollständig oder teilweise Inhalte periodischer Druckerzeugnisse in Text oder Bild wiedergegeben werden (§ 56 Abs. 1 RStV). Wikipedia zitiert zwar aus Zeitungen und Zeitschriften, gibt aber deren Inhalte nicht umfassend wieder. Nimmt man aufgrund der umfangreichen Regelwerke und kollaborativen Verfahrensweisen der Wikipedia eine journalistisch-redaktionelle Gestaltung an und legt man ihre publizistische Wirkung zugrunde, wäre ein Gegendarstellungsanspruch auch in Wikipedia nach § 56 RStV theoretisch denkbar. Durchzusetzen wäre dieser, wie erläutert, gegenüber der Wikimedia Foundation in San Francisco nur über die mühsame, aber erforderliche Zustellung in den USA.

Keinesfalls ermächtigt aber ein Gegendarstellungsanspruch zur Korrektur oder Änderung eines veröffentlichten Textes. Und keinesfalls ist jede Internetseite von § 56 RStV erfasst.

Anders nach dem Gesetzentwurf in Italien: Wikipedia fiele ohne weiteres unter die Regelung des § 29 des Gesetzes. Ministerpräsident Berlusconi könnte höchstpersönlich die Löschung oder „Korrektur“ der zahlreichen, seine Skandale betreffenden Artikel fordern. Es käme weder auf die Quellen des Artikels an, noch darauf, ob tatsächlich eine Rufschädigung besteht. Das Gesetz verstöße damit gegen Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Meinungs- und Informationsfreiheit, der vor allem in der politischen Debatte höchster Schutz zukommt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (vgl. die aktuelle Rechtsprechung zur Freiheit der Berichterstattung im Internet) und wohl auch der italienische Verfassungsgerichtshof müssten das Gesetz in Fällen, in denen es angewandt worden wäre, für grundrechtswidrig erklären. Doch bis dahin wäre es ein weiter Weg.

Die italienische Community sieht daher die Neutralität, Freiheit und Überprüfbarkeit der Wikipedia-Inhalte, „die Säulen, auf denen Wikipedia gebaut war“, in Gefahr. Jeder, der sich durch einen Wikipedia-Eintrag angegriffen fühle, könne die Entfernung des Inhalts und eine dauerhafte Veröffentlichung einer durch ihn korrigierten Fassung verfügen.  Daher schreiben die Wikipedianer:

„Die sich aus Paragraph 29 ergebende Verpflichtung, die Korrektur ohne Recht auf Diskussion und Überprüfung der Inhalte veröffentlichen zu müssen, würde zu einer inakzeptablen Beschneidung der Freiheit und Unabhängigkeit der Wikipedia führen, (…), ja letztlich zum Ende des Projektes, wie wir es bis heute kennen.“

Sie betonen, dass sie keinesfalls den Schutz der Reputation von Personen und Organisationen in Frage stellten. Jeder italienischer Bürger sei jedoch schon strafrechtlich gegen Diffamierungen geschützt. Überdies fühlten sich die Autoren der italienischen Wikipedia jederzeit verpflichtet, auf Nachfrage hin jeden Inhalt zu prüfen.

Innerhalb der weltweiten Wikipedia-Community wird der drastische Schritt der italienischen Wikipedianer kontrovers diskutiert. Sue Gardner, Executive Director der Wikimedia-Stiftung, drückte ihre Unterstützung aus, wertete den Gesetzentwurf ebenfalls als Verletzung der Meinungsfreiheit. Doch ob die komplette Sperrung des italienischen Wikipedia-Sprachraums der beste Weg war, die Aufmerksamkeit und den Protest der Bürger zu wecken, ließ sie offen. „What’s done is done, for the moment“, schrieb Gardner. Nun ist die Sperrung wieder aufgehoben.

Außerhalb der Wikipedia regt sich ein erhebliches Medieninteresse. Vom „Maulkorb fürs Internet“ schreibt die taz, von „Zensur. Italienische Wikipedia vor Schließung“ der österreichische Standard. Die Zeit konstatiert in einem Kommentar gar „Die letzten Zuckungen des Berlusconismus“. Ihr Autor schreibt:

„Dieses Gesetz, träte es in Kraft, wäre das Ende des italienischen Internets. Und es wäre das Ende des Rechtsstaates. (…) Das zeigt, deutlicher denn je, wie die Berlusconisti ticken. Sie verachten den Rechtsstaat, sie pfeifen auf ihre Verfassung und die Menschenrechte. Sie hängen einer lächerlich altertümlichen Ideologie an.“

275.054 Menschen haben sich in Facebook bisher mit dem Protest solidarisiert, und minütlich werden es derzeit etwa 40 mehr. Es ist eine Kraftprobe: Berlusconis Machtapparat und Medienimperium gegen die Bürger im Netz.

Das Netz wird stärker sein als die ohnehin bröckelnde Macht Berlusconis, so hoffen viele. Die Gesetzesinitiative wird scheitern. Erste Zugeständnisse soll es bereits gegeben haben, die mit zur Rücknahme der Sperrung geführt haben.

Und wenn unter dem Deckmantel des Persönlichkeitsschutzes doch derart in die Meinungs- und Informationsfreiheit eingegriffen wird, wird es Sache der Gerichte bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sein, die Internetfreiheit zu sichern.

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1 Antwort zu Warum die italienische Wikipedia zwei Tage lang offline war: Protest gegen eine Gesetzesinitiative der Regierung Berlusconi, die Freiheit und Neutralität der Enzyklopädie bedroht

  1. Werner W. sagt:

    Neutralität und Projektverrat

    Sie haben vergessen, zu schildern, warum gerade diese Form des Protests international von Wikipedianern kritisiert wird. Erstens verrät sie damit ihren Auftrag, das Weltwissen frei anzubieten, zweitens verrät sie damit nach Ansicht einiger ihren Auftrag, neutral zu berichten und wird selbst politischer Akteur. Drittens hat die weltweite Community Angst, eine solche Maßnahme könnte sich gegen Sie selbst richten:

    Gerade hat die deutsche Wikipedia den international geplanten wikipediainternen Bildfilter abgelehnt und diskutiert ähnliche Maßnahmen des Protestes. Dafür hat Sue Gardner nur wenig Verständnis. Der Virus verbreitet sich, die Franzosen stimmen gerade über den Bildfilter ab.

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